Inklusion:Eine Mogelpackung

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Wie lernen behinderte und nicht behinderte Kinder am besten? Erst kürzlich plädierte ein Gymnasiallehrer in einer Außenansicht für "Inklusion mit Augenmaß". Daraufhin schrieben uns zahlreiche Leser, die vehement für weitestgehende Inklusion eintreten.

Auch behinderte Kinder brauchen individuelle Herausforderungen: Inklusionsklasse in Aachen. (Foto: Oliver Berg/dpa)

"Inklusion mit Augenmaß" vom 22./ 23. April:

Exklusion muss ein Ende haben

Seit mehr als 50 Jahren werden Kinder in "Sonderschulen" gesteckt, ohne dass bis heute nachgewiesen werden konnte, dass sie dort mehr lernen, dass sie sich besser entwickeln - trotz besonders kleiner Klassen, trotz Doppelbesetzung oder Assistenz, trotz sogenannter sonderpädagogischer Kompetenz. "Körperbehinderung" ist eben nicht gleich "Körperbehinderung", und andererseits lernt ein Kind mit IQ 82 nicht anders als eines mit IQ 78.

Man muss innerhalb einer Förderschulklasse genauso Raum für individuelle Herausforderungen und Unterstützung schaffen wie innerhalb einer Regelklasse. Wobei die Art der Unterstützung nicht eine formal bestimmte "Sonderpädagogik" sein kann, sondern viel spezifischerer Art sein muss: je nach Bedarf sprach- oder mathematikdidaktische, Beherrschung von Braille-Schrift oder Förderung sozialen Verhaltens, sozialpädagogische oder therapeutische Hilfe. Häufiger gebrauchte Kompetenzen sollte es an der Schule geben, Spezialisierungen sollten im Schulverbund verfügbar sein. Das Experiment mit der Exklusion muss ein Ende haben.

Michael Felten, der Autor der oben genannten Außenansicht, könnte sich auch einmal mit dem schon im 19. Jahrhundert begonnenen Experiment der dreigliedrigen Beschulung und ihrer wissenschaftlichen Fundierung beschäftigen. Drei Begabungstypen wurden damals unterstellt, ohne dass sie jemand je hätte nachweisen können. Die starke Überlappung von Leistungen in Gymnasien, Haupt- und Realschulen zeigt, wie wenig diese drei Schubladen der Vielfalt der kindlichen Profile gerecht werden. Trotzdem halten die Ideologen an den alten "Theorien" fest - wie auch an einem "Elternrecht", das Kinder zu deren Verfügungsmasse erklärt. Eltern und Schulen sollten endlich die Kinderrechte ernst nehmen. Seit 1989 sind übrigens auch sie in einer UN-Konvention verankert. Prof. em. Hans Brügelmann, Bremen

Bayern hat es besser

Besonders freut mich, dass Michael Felten den bayerischen Weg als Inklusion mit Augenmaß doch für gut befindet. Ich selbst habe im Jahre 2008 einen Arbeitskreis mit bayerischen Bildungspolitikern, VertreterInnen der kirchlichen Schulträger und der Lebenshilfe und Mitarbeitenden des Kultusministeriums unter Leitung der damaligen Sozialministerin in Bayern, Christa Stewens, initiiert, nachdem vor lauter Inklusionsbereitschaft die Förderqualität beinahe über Bord gegangen wäre. Außerdem wollte man ausgerechnet bei den Kindern Inklusion ausprobieren, die mit zu den Verletzlichsten gehören und die sich gerade deshalb häufig selbst exkludieren, nämlich die mit dem Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung. Durch diesen Arbeitskreis im Landtag haben wir es geschafft, die schlimmsten Fehlentwicklungen zu verhindern und allmählich den Personalstand der Förderzentren, der durch Mobile Dienste und mangelnde Investitionen nahezu ausgeblutet war, wieder zu verbessern.

Die Situation ist noch weit entfernt von gut, aber sie ist besser als in anderen Bundesländern, und die Förderung der Kinder mit hohem sonderpädagogischen Förderbedarf in allen Förderschwerpunkten bleibt weiterhin in fachlicher Hand. Vor allem die Kinder profitieren davon, deren Eltern einen fördernden Ganztag benötigen. Bei den privaten Trägern arbeiten deshalb in der Regel Schule und Nachmittagseinrichtungen, die einen anderen Kostenträger haben, miteinander. Dadurch bleibt die Förderung in einer Hand auch intensiv genug. Und die Eltern müssen nicht den Nachmittag mit dem Transport der Kinder zu den verschiedenen Therapeuten verbringen. Dr. Edith Wölfl, München

Eine Mogelpackung

Mir fällt auf, dass die Infragestellung von Inklusion meist von jenen kommt, die das Förderschulsystem nicht zu kennen scheinen. In diesem Falle das in Bayern. Wie auch diesmal wird so getan, als ob ein Kind auf der Förderschule den gleichen Zugang zu Lehrinhalten und Wissen habe wie an einer Regelschule als Inklusionsschüler. Doch die Förderschule bietet nicht die gleichen Bedingungen. Vor allem bietet sie behinderten Kindern nicht den Zugang zu allen Bildungsinhalten. Einem Downkind oder einem Kind mit Lernbehinderung das Interesse am allgemeinen, breit gefächerten Bildungssystem abzusprechen, finde ich vermessen und anmaßend. Es geht doch nicht darum, dass ein behindertes Kind auf der Regelschule mithalten muss. Solange Inklusion immer noch mit dem Anspruch verwechselt wird, behinderte Kinder müssten die gleichen Leistungen erbringen wie nicht behinderte Kinder, kann Inklusion auch nicht funktionieren.

An einer Förderschule werden Kinder radikal nach ihren Fähigkeiten klassifiziert in behindert und zu behindert für Bildung. Kinder, die zum Beispiel an einer Körperbehindertenschule nicht dem Regelschullehrplan folgen können (nach Ansicht der Schule), werden aussortiert in Klassen mit geringerem Anspruch, wo nicht mehr die Kulturtechniken im Vordergrund stehen, sondern die Vorbereitungen auf eine Werkstatt für behinderte Menschen. Egal, ob Eltern das gut heißen oder ob sie das für ihr Kind möchten. Auf die Eltern wird so lange Druck ausgeübt, bis das Kind in dem für die Förderschule passenden System sitzt. Selbst Kinder, die in der Grundschulzeit vom Regelschullehrplan profitiert haben, werden spätestens in der Mittelschulzeit aus den Regellehrinhalten wegrationalisiert. Sie werden auch hier als Hindernis für leistungsstärkere Schüler und als Bremsklotz für das Schulsystem angesehen.

Unterrichtsinhalte, die dem Kind bisher Spaß gemacht haben, fallen mit dem Wechsel einfach weg. Für was brauchen Kinder mit Lernschwierigkeiten mal Englisch?

Eltern werden systematisch bedrängt, sich dem Förderschulsystem zu unterwerfen. Egal, ob das Kind zuvor gut in die Klasse integriert war oder nicht. Und egal, ob das schwächere Kind durch leistungsstärkere Kinder zu besseren Leistungen angeregt wurde. Den Wunsch nach Inklusion auf ein schlechtes Gewissen, Mitleid oder gar auf NS-Schuldreflexe zu reduzieren, kann nur von jemandem kommen, der selbst nicht weiß, wie es ist, sein Kind in einer Parallelgesellschaft zu sehen, die sich aber kein bisschen darum bemüht, diese Menschen auf ein Leben außerhalb ihrer Glasglocke vorzubereiten. Im Gegenteil, die Kinder werden passend gemacht für das System Behinderung.

Im Übrigen sind inklusive Modelle in Bayern entgegen der Angabe von Michael Felten eine Mogelpackung. Natürlich gilt auch hier das Recht, sein Kind inklusiv beschulen lassen zu dürfen. Doch was hier nach Inklusion mit gleichzeitiger Förderschuloption aussieht, ist eher die konservative Zurückhaltung eines Bundeslandes, das sich extrem schwer damit tut, Inklusion umzusetzen. Eltern müssen ihr Recht auf Inklusion weiterhin mit rechtlicher Hilfe einfordern. Auch an Förderschulen mit Regelschullehrplan. Dr. Petra Kissling-Koch, München

Vorbild Südtirol

Die Region Südtirol, die innerhalb Italiens auch in der Bildungspolitik über eine Autonomie verfügt, hat Förderschulen sowie alle Sondereinrichtungen für Kinder mit Beeinträchtigungen schon vor 40 Jahren abgeschafft. Alle Kinder besuchen gemeinsam eine Schule bis zur achten Klasse. Der Besuch der Südtiroler Schulen kann allen, die sich mit der Inklusionsproblematik beschäftigen, sehr empfohlen werden. Zu erleben ist ein selbstverständliches Miteinander von Kindern und eine große Ruhe und Entspanntheit in allen Einrichtungen. Allzu leicht wird bei der "Inklusionsproblematik" übersehen, dass es auch für Kinder ohne Einschränkungen ein großer Gewinn ist, einen natürlichen Umgang mit behinderten Kindern zu erlernen.

In Südtirol sind allerdings auch äußere Voraussetzungen realisiert, die für eine gelingende Inklusion bedeutsam sind: Der Lehrerschlüssel in Südtirol beträgt 1:8 bis 1:9, es besteht eine Fortbildungsverantwortung der Kollegien. Eltern und Lehrer in Südtirol beteuern, dass niemand - weder Eltern noch Inklusionslehrer, wie die Sonderschullehrer in Südtirol genannt werden - auf die Idee kämen, für Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf Förderschulen zu fordern. Das Thema Inklusion sollte ohne die Polemik diskutiert werden, zu der der Autor des Artikels "Inklusion mit Augenmaß" mitunter greift. Mit seinen Worten wäre Südtirol eine Region der "radikalen Inklusionisten". Helmut Gattermann, Merzhausen

Teilweise getrennter Unterricht

Verständlich, dass viele Lehrer und auch Eltern Befürchtungen bekommen, wenn vom gemeinsamen Unterricht sehr heterogener Gruppen die Rede ist. Nach meinem Verständnis gibt es hier ein grundsätzliches Missverständnis. Es geht vorrangig um gemeinsame Beschulung. Oder wie der Schauspieler Walter Sittler schon vor längerer Zeit in einer Talkshow sinngemäß fragte "Was spricht denn eigentlich dagegen, dass unterschiedliche Kinder zunächst einmal in ein Gebäude (bzw. eine Schule) gehen?" Welche unterschiedlichen Klassen dann in solch einer Schule für welche Zeiträume zusammengestellt werden, ist die entscheidende Frage. Diese Klassen dürfen nämlich (schon vom Wortsinn her) nicht zu heterogen sein, das heißt die Zusammenstellung muss sehr flexibel auf die Eigenschaften der Schüler reagieren und gleichzeitig die Lernanforderungen berücksichtigen: Geht es um Sport? Geht es um Mathematik? Eine große Herausforderung an das Management einer Schule - und eine mögliche Entlastung für die Lehrer, die momentan zunehmend "genötigt" werden, Unterricht für teilweise extrem heterogene Klassen vorzubereiten. Kay Brockmann, Hamburg

Das ist Ideologie

"Inklusion mit Augenmaß" ist nichts anderes als ein Synonym für "Ein bisschen Inklusion reicht doch": Die klugen Behinderten dürfen dabei sein, aber die Doofen sollen bleiben, wo sie sind. Und schon gar nicht im Gymnasium unsere Elite stören! Dass sich immer wieder Gymnasiallehrer so zu Wort melden, zeigt, wie weit gerade diese noch von inklusivem Denken und dem Geist der UN-Behindertenrechtskonvention entfernt sind. Inklusion ist Menschenrecht. Separation ist Ideologie. Nicht umgekehrt. Kirsten Ehrhardt, Walldorf

© SZ vom 04.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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