In eigener Sache:Stereotype und Klischees

Kurt Kister erklärt die Haltung der Chefredaktion der "Süddeutschen Zeitung" zur Netanjahu-Karikatur und die Gründe, die zur Trennung vom langjährigen Karikaturisten Dieter Hanitzsch geführt haben.

Von Kurt Kister, Chefredakteur

Am Dienstag erschien auf der Seite Vier eine Zeichnung unseres langjährigen Karikaturisten Dieter Hanitzsch. Man sah eine Figurine des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu, der in Pose, Gewandung und Stil an die israelische Gewinnerin des Eurovision Song Contest (ESC) erinnerte. Der gezeichnete Mann hielt eine Rakete in der Hand, auf einem Spruchband war "Eurovision Song Contest" zu lesen. Eine Sprechblase kam aus dem Mund des Karikierten, die da lautete: "Nächstes Jahr in Jerusalem". Im Gesicht des karikaturistisch Porträtierten sah man eine sehr große Nase und eher dicke Lippen. Die Ohren waren sehr groß. Sowohl auf der Rakete als auch auf dem Spruchband war ein Davidstern zu sehen. Der Karikaturist, so sagte er später, wollte auf diese Weise "die politische Instrumentalisierung des ESC-Sieges durch Netanjahu" kritisieren.

Diese Karikatur führte innerhalb und außerhalb der SZ zu Verwerfungen, zu denen auch gehört, dass die Chefredaktion die Entscheidung getroffen hat, dass Dieter Hanitzsch nicht mehr für uns zeichnen wird. Wie ist es zu all dem gekommen?

Das Grundsätzliche: In der SZ erscheint jeden Tag eine meistens politische Karikatur auf der Seite Vier. Wir haben dafür einen Stamm von Karikaturisten, von denen einige schon sehr lange für die SZ arbeiten, andere nicht. Die Karikatur gehört intern zu jenen Teilen der Zeitung, über die in der Konferenz immer mal wieder gestritten wird. Viele auch jüngere Kolleginnen und Kollegen beschweren sich, dass die Zeichnungen oft altväterlich seien; andere halten dagegen, dass manche Karikaturisten und ihre Arbeiten zur guten Tradition der Zeitung zählen, wie etwa das Streiflicht oder die Seite Drei. Es ist übrigens nicht einfach, gute Karikaturisten zu finden. Manche sind Illustratoren, aber keine Kommentatoren mit dem Zeichenstift; andere zeichnen Comics, Sprechblasen-Gags, aber keine Karikaturen.

Der Ablauf für unsere Karikaturen sieht so aus: Der diensthabende Karikaturist spricht morgens mit dem diensthabenden Kollegen vom Ressort Meinungsseite. Manchmal werden Skizzen geschickt, wie eine Karikatur aussehen könnte, manchmal redet man nur über das Thema ("Merkel in Washington wär' doch heute was"). Im Falle der ESC-Karikatur gab es einen längeren Abstimmungsprozess zwischen dem Karikaturisten und dem Redakteur. Über das Thema bestand Einigkeit (die politische Instrumentalisierung des ESC). Dann schickte der Karikaturist die erste Fassung, man debattierte wieder, es kamen noch ein, zwei Fassungen und schließlich die, die der Redakteur nach einigem Hin und Her für irgendwie o. k. hielt.

Jetzt kommt der persönliche Teil, der der Ehrlichkeit halber sein muss: Ich hätte diese Karikatur niemals "ins Blatt gehoben", wie man das nennt. Anders als der Zeichner und der Redakteur bin ich der Auffassung, dass sie antisemitische Stereotype oder Klischees enthält. Ich kenne Dieter Hanitzsch lange genug, um zu wissen, dass er weder Rassist ist noch Antisemit. Das aber ändert nichts daran, dass die Art der karikaturistischen Überzeichnung der Netanjahu-Figur physiognomische Merkmale hat, die auch heute noch in vielen Ländern dieser Erde benutzt werden, wenn "der" Jude in Karikaturen oder politisch gemeinten Plakaten symbolisiert werden soll. Stereotype können, auch wenn sie nicht in jedem Fall so gemeint sind, Rassismus unterstützen oder selbst rassistisch sein.

Gerade Deutsche müssen noch sorgfältiger und vor allem geschichtsbewusster sein, wenn es um Typisierungen, zumal um typisierende Karikaturen geht. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass in Deutschland stets die antisemitische Zeitschrift Der Stürmer in jede dieser Diskussionen als Vergleichsobjekt, egal ob passend oder nicht passend, eingeführt wird. Im Stürmer waren zur Nazizeit jene typisierenden Karikaturen zu sehen: die großen Ohren, die Nasen (egal ob nur dick oder auch als Hakennase), die wulstigen Lippen etc. Und für alle, die es noch nicht verstanden hatten, sah man im Stürmer und anderswo stets den Davidstern als optischen Holzhammer. Er sollte auch den Dümmsten noch signalisieren: Es geht um Juden.

Weil das so ist, war ich entsetzt, als ich am Dienstag die Karikatur in "meiner" Zeitung sah. (Ich kam am Dienstagmittag nach längerer Abwesenheit zurück ins Büro). Ich habe nichts dagegen, wenn in der SZ Teile der Politik der rechtsnationalen bis reaktionären Netanjahu-Regierung auf der Meinungsseite kritisiert werden. Aber es erschreckt mich, wenn ich eine Karikatur sehe, auf der zweimal mithilfe des Davidsterns nahegelegt wird, dass der ESC irgendwie israelisch (nein: jüdisch) ist und Netanjahus Raketen oder Bomben auch. Dies sind Stereotype, egal wie sie gemeint sind. Der Davidstern muss für einen Karikaturisten in diesem Land etwas anderes sein als "nur" ein Nationalsymbol wie der Union Jack oder die Stars and Stripes.

Das hat entscheidend mit unserer Geschichte zu tun: Wir Deutsche haben bis 1945 diesen Stern zur rassistischen Typisierung benutzt und missbraucht; die Juden mussten ihn sich von 1941 an in allen Teilen des Nazi-Imperiums an ihre Kleidung als Erkennungszeichen nähen. Der Weg führte in den Holocaust. Deswegen glaube ich, dass der Davidstern in deutschen Karikaturen nur sehr vorsichtig und stets im vollen Bewusstsein unserer Geschichte verwendet werden darf. Ob die Zeichnung nur scharf Netanjahus Politik kritisiert, ohne etwas über Israel oder "die" Juden im Allgemeinen auszusagen, kann man sehr kontrovers debattieren. Dies geschieht innerhalb und außerhalb der SZ-Redaktion. Auch ich glaube nicht, dass "die" Zeichnung antisemitisch ist. Aber sie enthält eindeutig Stereotype, die auch von Antisemiten benutzt wurden und werden. Das ist bedauerlich, und deswegen hat mein Kollege Wolfgang Krach vor Tagen für den Abdruck der Karikatur um Entschuldigung gebeten.

Apropos Abdruck: An jedem Tag wird die Karikatur noch einmal vom diensthabenden Chef oder einem Vertreter "abgenommen". Ausgerechnet an dem bewussten Montag erfolgte dies nicht, was einer Mischung aus Arbeitsbelastung, Termindruck und Abwesenheiten geschuldet war. Wir werden gerade nach dieser Erfahrung die Organisationsabläufe so verändern, dass dies nicht mehr vorkommen kann. So kann es leider gehen: ein Zeichner, der sich der Problematik dessen, was er zeichnet, nicht bewusst ist; ein Redakteur, der manches mit dem Zeichner durchsprach, anderes aber nicht sah; eine Kontrollinstanz, die nicht kontrollierte.

In den letzten Jahren übrigens gab es zweimal ähnliche Vorfälle, auch wenn jeder anders lag. Der eine war eine Karikatur über den Facebook-Chef Zuckerberg, bei der ein Karikaturist mit Physiognomie-Stereotypen arbeitete; er war selbst höchst erschreckt, als es ihm bewusst wurde. Auch hier sah ein Redakteur nicht genau hin. Das zweite Mal ging es um eine, vorsichtig gesagt, sehr unglückliche Bildunterschrift, mit der eine völlig unpolitische Illustration in missglückter Ironie mit Politik gegenüber Israel verknüpft wurde.

Und warum haben wir uns nun von Dieter Hanitzsch getrennt? Ich will nicht aus Gesprächen zitieren, die wir mit ihm geführt haben. Dennoch ist seine Auffassung über Stereotype und Klischees so grundsätzlich anders als die von mir geschilderte, dass wir dies in der Chefredaktion für höchst problematisch halten, weil es den Kernbereich der Zusammenarbeit betrifft. Das Entscheidende aber war, dass der Gang der Gespräche zu einem Vertrauensverlust führte. Wenn sich Menschen über einen Text, eine Zeichnung oder andere Dinge zerstreiten, kann man dies oft durch Debatten, manchmal durch Kompromisse und hin und wieder nur durch eine Trennung lösen. Letzteres vor allem dann, wenn man Vertrauen verletzt oder gar zerstört sieht. Das ist so im Beruf, aber auch im Privatleben.

Eine nun wirklich persönliche Anmerkung zum Schluss. Ich gehöre als Geburtsjahrgang 1957 jener Generation von Deutschen an, in der das "Nie wieder" bei sehr vielen eine große Rolle spielte. Ich wuchs in meiner Geburtsstadt Dachau im Schatten des Konzentrationslagers auf, das heute eine Gedenkstätte ist. Bin ich deswegen in manchen Dingen vielleicht "übersensibel"? Ja, sicher. Und dennoch glaube ich immer noch, dass es Fragen gibt, in denen Deutsche kaum übersensibel sein können. Manchmal sehe ich mit einer Art resignativer Trauer, dass dies von immer mehr Leuten als eine Haltung aus dem 20. Jahrhundert verstanden wird.

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