"Gemeinsame Erklärung 2018":Abkehr vom europäischen Wertekanon

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Der Artikel "Top-down ist wieder in" von Lothar Müller befasste sich mit der "Gemeinsamen Erklärung 2018" zur Flüchtlingskrise. Dazu kamen viele Leserbriefe, die meisten von ihnen verwarfen die Erklärung als engstirnig.

"Festung" Ungarn nach dem Wahlen: „Wir haben eine Mauer gebaut und Europa hat sie bezahlt.“ – „Besser als Trump!“ Illustration: Chappatte (Foto: N/A)

"Top-down ist wieder in" vom 5. April:

Engstirnig und engherzig

Ein aufgeklärter, von den christlich-humanistischen Werten des Grundgesetzes überzeugter Bürger kann nicht ernsthaft bei vollen Sinnen und guten Gewissens unterschreiben, dass es eine "unkontrollierte Masseneinwanderung" gibt, die "Deutschland beschädigt". Das ist bestenfalls paranoider Quatsch von mal wieder überwiegend älteren Herren und mal wieder nur vereinzelten Damen, die sich lediglich um die rechtsstaatliche Ruhe in den Vorgärten ihrer schönen, wahrscheinlich recht großen Häuser sorgen; getrieben nur von einer zynischen Angst um ihren gehobenen Wohlstand, von der Angst, dass die "Einwanderung in unsere Sozialsysteme" das "System" am Ende so destabilisieren könnte, dass - Gott sei bei uns! - die Vermögenssteuer wieder eingeführt werden könnte oder Fahrverbote für SUVs.

Es stimmt, dass seit ein paar Jahren deutlich mehr Menschen herkommen als im Durchschnitt in der Vergangenheit. Doch ist die Einwanderung nicht unkontrolliert und das Verwenden des Attributs "Massen-" ist durchsichtige, im Kern menschenverachtende Brand-Rhetorik. Natürlich können wir nicht allen in Not Geratenen helfen, und vielleicht gibt es keine Pflicht zur Fremdenfreundlichkeit (gibt es denn ein Recht auf Fremdenfeindlichkeit?), aber unsere christlich-humanistisch geprägte Kultur verpflichtet uns, so vielen wie möglich zu helfen, ihnen etwas abzugeben von unserem Wohlstand; vor allem verpflichtet sie uns, damit aufzuhören, sie weiter in Not zu bringen. Schließlich ist die zentrale Erkenntnis von rund 2000 Jahren Christentum und Humanismus, dass alle Menschen von Gott beziehungsweise von Natur aus gleich geschaffen sind in ihren Bedürfnissen und Rechten und in ihrer Würde. Alle haben das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

Diese universalen Rechte bilden den Kern der sogenannten westlichen Werte, auf ihrer Grundlage konnten sich West-Europa und die USA zu den reichsten, freiheitlichsten und friedlichsten Gesellschaften der bisherigen Menschheitsgeschichte entwickeln. Wenn wir heute aus lauter engstirniger und engherziger Sorge um unseren Wohlstand diese Werte vergessen, dann verlieren wir nicht nur unseren Wohlstand. Dann bleibt nur der Weg in ein diesmal globales Dschungelcamp, wo dann wieder nur das Recht des stärksten Populisten gälte.

Michael Christiansen, Humptrup

Vom NSU wusste damals keiner

Lothar Müller ist ein anerkannter Feuilletonist und als sachlich argumentierender Autor bekannt. Er beschreibt in seinem Artikel die "Gemeinsame Erklärung 2018", in der sich Akademiker gegen illegale Masseneinwanderung aussprechen. Es ist nicht zu verstehen, wie er in dem Artikel den völlig danebenliegenden Vorwurf erheben kann, dass die Unterzeichner der Erklärung "keine Sorge um den Rechtsstaat erkennen ließen, als der NSU unter ungeklärter Beteiligung von Verfassungsschutzorganen die Republik mit einer Terrorwelle überzog".

Herr Müller, als die schrecklichen Terrormorde in Deutschland stattfanden, konnte kein noch so interessierter Zeitgenosse, also auch nicht die Unterzeichner der Erklärung, etwas von einem NSU Untergrund wissen. So erwecken Sie den durchsichtigen Eindruck, als suchten Sie krampfhaft nach Argumenten gegen die Unterzeichner.

Richard Drexl, Kaufbeuren

Wenn Intellektuelle versagen

In dem lesenswerten Artikel verweisen die Begriffe "Gesinnungsethik" und "Verantwortungsethik" implizit auf Max Webers Schrift "Politik als Beruf". Die Lektüre eines sehr viel weniger bekannten Artikels von Max Weber, der vor fast genau 101 Jahren erschien, hätte vor der Illusion bewahren können, "dass Leute, die mit Büchern zu tun haben, Leute, die ihrem Beruf als Psychologen oder Philologen als Virtuosen hermeneutischen Verstehens nachgehen, Leute, die chemische Lösungen oder physikalische Modelle analysieren, in politischen Dingen feinsinniger, differenzierter seien als Leute mit geringerem Bildungsgrad".

Im Kontext einer Debatte zur preußischen Wahlrechtsreform schrieb Max Weber am 21. April 1917: "Ein bei Literaten aller Art höchst beliebter Gedanke ist das Wahlprivileg der sogen. 'Bildung', das heißt der durch Examensdiplom patentierten Schichten. Ich selbst gehöre dieser Schicht an, habe ihren Nachwuchs sowohl in Berlin wie später in einem anderen Bundesstaat examiniert und kenne die Produkte unserer verschiedenen Examensfabriken. Mit dem größten Nachdruck darf ich deshalb sagen: eine politisch im Durchschnitt geringer qualifizierte Schicht gibt es in Deutschland überhaupt nicht, als eben diese.

Schon was akademische Lehrer an Mangel an politischem Augenmaß insbesondere im Kriege [1914 ff - Anm. d. Verf.] geleistet haben, übersteigt bekanntlich alles Dagewesene. Und wo steht denn auch geschrieben, dass irgendein auf Universitäten oder anderen Hochschulen gelehrtes Fachwissen, etwa philologischer, maschinentechnischer, mathematischer, juristischer, chemikalischer Art, irgendeine Qualifikation für politisches Urteil und politische Realitäten vermittle? Das auf dem Wege der theoretischen Belehrung tun zu wollen, ist überhaupt unmöglich. Der charakteristische deutsche Glaube: dass unsere öffentlichen Bildungsanstalten Stätten politischer Schulung sein könnten, ist eines der lächerlichsten Vorurteile."

Dr. Gerhard Schreier, Gütersloh

Das Wort "wir"

Der Artikel hat in äußerst anerkennungswerter Weise jene "unheilvolle" - offenkundig sehr deutsche - der "Obrigkeit" gegenüber zur Unterwerfung bereite Haltung in seinem Beitrag herausgearbeitet. Zunächst ist der in der Sprache sich ausdrückende "Homogenisierungsdruck" auffällig. Eine "gemeinsame Erklärung", deren Gemeinsamkeit durch das Wort "wir" noch gefestigt werden muss, macht nachdenklich. Zunächst gilt es offenkundig, für den Club der "Unterschreibungswilligen" deren Exklusivität aufgrund gesellschaftlicher "Voreingenommenheit" dieser Elite gegenüber herauszustellen und für ihre Interessen zu nutzen. Es ist ja kaum zu glauben, mit welchem Erfolg eine derartige Strategie rechnen kann, die nur auf zwei Sätzen aufbaut und durch die "Eliten-Unterschriften" beworben wurde. Wenn die sogenannte "Voreingenommenheit" bei den Menschen den Eliten gegenüber durch deren wünschenswertes Verhalten ihre Berechtigung erfahren würde, dann wäre dies ein großer gesellschaftlicher Gewinn und nichts dagegen einzuwenden.

Dem aber ist eben nicht so. Als Beispiel sollte uns unsere geschichtliche Vergangenheit daran erinnern, dass sogenannte akademische Grade nicht als Garantie für eine gute Entwicklung gelten können: Die 15 Teilnehmer der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942, wo die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen wurde, waren alle hohe Beamte - eine Elite mit teilweise juristischem Doktortitel. Dies sollte der Gesellschaft zum Denken Anlass geben.

Dr. Alfred Seitz, Nürnberg

Speerspitze der AfD

Wenn "Top-down" das Problem wäre! Hier handelt es sich offensichtlich um die geistige Speerspitze der AfD und ähnlicher Gruppen, die gern den Begriff der Rechtsstaatlichkeit im Mund führen. Das Asylrecht und völkerrechtliche Regeln wie die Genfer Flüchtlingskonvention zählen für diese Herrschaften offenbar nicht dazu. Bezeichnend ist, dass Juristen als Unterzeichner nicht genannt werden, auch wenn einige dabei sein mögen.

Thomas Topp, München

Solidarität

Mit wachsendem Befremden beobachten wir, wie Deutschland durch die wachsende Fremdenfeindlichkeit beschädigt wird. Wir solidarisieren uns mit denjenigen, die aufgrund von Armut oder Krieg bei uns Zuflucht suchen, bis die rechtsstaatliche Ordnung in den Grenzen ihres Landes wiederhergestellt wird.

Christian Stonner, Châteaufort/Frankreich

© SZ vom 11.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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