Flüchtlinge:Unfähig zu helfen

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Migration ist Menschenschicksal. Sie ist so alt wie die Menschheit. Zurzeit spielt sich das menschliche Elend an der libyschen Küste ab. Die Leser sagen: Wir haben aus der Geschichte nichts gelernt. Sonst würden wir wirkliche Hilfe leisten.

Ist eine Ausstellung für zeitgenössische Kunst wie in Kassel der richtige Ort, um einen Vergleich zwischen historischem und aktuellem Flüchtlingselend zu ziehen? SZ-Leser meinen: Ja. (Foto: Uwe Zucchi/dpa)

"Kein Schiff wird kommen" und "Angriff auf die Freiheit der Kunst" vom 28. August:

Nichts gelernt

Oliver Meiler berichtet, dass Italien nunmehr eben alleine handelt, weil es seit der Schließung der Balkanroute die Migrationsströme, die über das zentrale Mittelmeer aus Nordafrika kommen, ganz allein bewältigen muss (allein in diesem Jahr schon Hunderttausende). Entgegen allen europäischen Vereinbarungen über eine Umverteilung zum Trotz erfährt das Land bisher keine wirkliche Hilfe von den europäischen Partnerstaaten.

Das Vorgehen Italiens ist bisher so effektiv wie zynisch: Humanitäre Hilfsorganisationen, die Flüchtlinge aus den maroden Seelenverkäufern im Mittelmeer vor dem Ertrinken retten, werden "ausgebremst". Andererseits wird die libysche Küstenwache ausgerüstet und ausgebildet mit dem Ziel, die Flüchtlinge in libysche Auffanglager zurückzubringen - in "Orte des Grauens und der Gewalt, verwaltet von Milizen". Seitdem ist der Flüchtlingsstrom gewissermaßen über Nacht versiegt - und keiner in Europa fragt sich, "wo die Flüchtlinge denn plötzlich alle geblieben" sind.

Die Schließung der Grenzen und die Zurückweisung von Flüchtlingen in Europa sind keineswegs nur ein Phänomen der Gegenwart: Nach dem Ende des 1. Weltkriegs wurden in Europa schon einmal die Grenzen für Flüchtlinge geschlossen, die vor dem Krieg ähnlich offen waren wie im Schengenabkommen vorgesehen. Ähnlich erging es vielen jüdischen Flüchtlingen, die Ende der 1930er-Jahre vor dem Naziterror in die Schweiz, nach Großbritannien und in die USA fliehen wollten. Es scheint, als ob die europäischen Gesellschaften nichts aus der Geschichte gelernt hätten, allen Menschenrechten und Asylgarantien mit Verfassungsrang zum Trotz.

Anstatt sich klammheimlich darüber zu freuen und wegzuschauen, dass Flüchtlinge mit fragwürdigen Methoden und unter unmenschlichen Bedingungen bereits in Afrika daran gehindert werden, europäischen Boden zu erreichen, um überhaupt in der Lage zu sein, ihre Grundrechte auf Asylbeantragung wahrzunehmen, wäre ein Minimum von Empathie angebracht. Wenn man schon keine direkte Berührung mehr mit dem Elend und der Not der Flüchtlinge hat, weil sie nun völlig aus Europa ausgesperrt werden, sollten wenigstens nicht auch noch künstlerische Auftritte verboten werden, die Empathie und Sensibilisierung für das Flüchtlingsproblem stellvertretend über Kunst und Literatur zu dem Thema herzustellen versuchen, wie es die Performance "Auschwitz on the beach" auf der Documenta vorhatte. Prof. Dr. Werner Hennings ,

Montecatini V.C./ Italien

Am Ort wirken

In Libyen stauen sich, so müssen wir lesen, geschätzte eine Million meist junge Menschen, die es nach Europa zieht. Sie vegetieren dort in Lagern unter unsäglichen Bedingungen. Daran verdienen skrupellose Kriminelle Geld, viel Geld. Mit "Auschwitz on the Beach" auf der Documenta in Kassel wollte Franco Berardi dies anprangern. Philipp Ruch vom "Zentrum für Politische Schönheit" wendet sich zu Recht gegen die Absage der Performance. Zwar ist der Vergleich der Lager in Libyen mit den unbegreiflichen Verbrechen des Holocaust falsch, aber es geht darum, uns alle aufzurütteln. Die Lager in Libyen sind nicht Teil eines fabrikmäßig organisierten Massenmordes, aber sie sind auch keine Naturkatastrophen, denen wir machtlos ausgeliefert sind. Migrationsursachen lassen sich reduzieren mittels Maßnahmen, die vor Ort und im Kleinen unmittelbar wirken und langfristig wirksam bleiben. Erster Schritt ist der Stopp eigener und fremder Waffenlieferungen. Stets wird es darum gehen, die örtlichen Strukturen sich entwickeln zu lassen und zu stärken. Wie wäre es damit, in wirtschaftlich besonders schwachen Gebieten ein Grundeinkommen für Hausstände zu sichern? Und Migrationsberatungszentren, wie sie in Pristina, Belgrad, Tirana bestehen, unter EU- oder UN-Administration auch in Ländern Afrikas einzurichten; die insbesondere die Rückkehr in das Heimatland fördern und begleiten. Wie wäre es, die Wertschöpfungskette schon dort effektiv einsetzen zu lassen, wo der Rohstoff geschürft wird? Der Wohlstand Afrikas liegt in unserem eigenen Interesse.

Prof. Richard Motsch, Bonn

© SZ vom 04.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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