Erdoğan:Muskelspiele im Kampf um jede Stimme

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Was möchte der türkische Staatspräsident mit seinen Drohungen und Vorwürfen gegenüber Deutschland und Europa erreichen? Eine Leserin türkischer Abstammung ist sich sicher: Erdoğan wird das Land weiter verändern.

Vorwürfe und Drohungen gegenüber Europa: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. (Foto: AP)

"Wie du mir ..." vom 21. März sowie "Leere Drohung" und "Wo wird das noch enden?" vom 18./19. März:

Aus Freunden wurden Gegner

Warum braucht Präsident Erdoğan die Stimmen der türkisch-europäischen Bewohner? Die Antwort ist eindeutig: In einem innerlich zersplitterten Land, das in einer seiner schwersten Krisen seit der Republikgründung steckt, würde er nie auf die Mehrheit der Stimmen kommen, um das Präsidialsystem zu erlassen. Deswegen braucht er jede Stimme der türkisch-europäischen Bewohner, und zum größten Teil hat er sie auch, denn die meisten europäischen Türken sehen nur türkisches Fernsehen und somit nur türkische Propaganda. Außerdem bekommen sie als Außenstehende auch nur wenig mit von dem Land, das sie oftmals selbst als "Heimat" bezeichnen, aber die meisten nur als Urlaubsort kennen. Die Labilität der türkischen Bevölkerung in Europa kann er sich nur zu Nutze machen, indem er den Feind "Europa" vergrößert. Denn nur wenn es einen großen Feind gibt, der das Land bedroht, wird der Nationalismus stärker.

Die größten Feinde seien jedoch Merkel und Deutschland. Man wundert sich, warum, wenn man die gemeinsame Geschichte beider Länder betrachtet. Dafür gibt es mehrere Gründe: zum einen, weil Deutschland vielen von Erdoğan Verfolgten Asyl gibt, zum zweiten, weil Kanzlerin Merkel seine Politik nicht unterstützt und großen Einfluss auf die Politik in Europa hat. Die jahrzehntelangen Beitrittsverhandlungen haben indirekt zu dieser Radikalisierung beigetragen, auch wenn dies gerne bestritten wird. Nicht nur viele säkularisierte und laizistische Türken fühlen sich im Stich gelassen, jetzt wird dies auch ausgenutzt, indem Erdoğan es als "Hinhalte-Taktik" deklariert. Nur mit einem Bruch mit Europa kann er Alleinherrscher werden und das Land in eine Autarkie umformen, womit im schlimmsten Fall auch gerechnet werden muss, da die Opposition zum Schweigen gebracht wurde und viele Türken, die in Europa sesshaft sind, sich durch die anti-islamische Haltung immer mehr zurückgedrängt und benachteiligt fühlen. Die laizistische und moderne Türkei wird bald der Vergangenheit angehören. Feride Durna, Barcelona/Spanien

Null Mehrwert

Die gegen Deutschland gerichteten Verunglimpfungen durch den türkischen Staatspräsidenten Erdoğan haben die deutsche Volksseele zunehmend in Wallung gebracht. Dieser Entwicklung konnte sich offensichtlich auch die Süddeutsche Zeitung nicht entziehen. Denn wie sonst ist die Feststellung von Stefan Kornelius zu deuten, "archaische Muskelspiele" seien gegenüber Erdoğan "notwendig"?

Dabei gerät die Frage nach dem politischen Mehrwert solcher Muskelspiele in den Hintergrund. Der politische Mehrwert wäre gleich null. Denn die Bundesrepublik würde durch eine Politik "Wie du mir, so ich dir" keinen Gewinn erzielen, sondern die Stimmung weiter anheizen und damit Erdoğan in die Karten spielen und der politischen Emotionalisierung Vorschub leisten. Im Übrigen können wir aus der Geschichte lernen, dass eine Politik, die sich an einer aufgeheizten beziehungsweise aufgehetzten Volksseele orientiert hat, noch nie dem Wohl der Menschen gedient hat. Deshalb sollte man nicht zu archaischen Muskelspielen auffordern, sondern zu Festigkeit und Gelassenheit. Gelassenheit darf dabei nicht mit Appeasement (Nachgiebigkeit) verwechselt werden. Wolfgang Wagner, Wadern

Klare Kante - gut so

"Der Klügere gibt nach - aber nicht immer" vom 15. März: Der deutsche Regierungssprecher reagierte auf Erdoğans unsägliche Provokationen mit der wunderbaren Formel: "erkennbar abwegig", was übersetzt so viel heißt wie: "Das merkt doch jeder, dass hier ein Wahnsinniger wütet." Und wer weniger erpressbar war als die Bundesregierung und gar noch vor Wahlen stand beziehungsweise steht (Saarland), der zeigte erfreulich deutlich Kante. Der SZ-Kommentator Stefan Ulrich gehört eindeutig zur letzteren Gruppe. Ich stimme ihm auf ganzer Linie zu. Seine Analyse der massenpsychologischen Wirkung und Funktion der türkischen Appelle an Blut und Ehre ist absolut schlüssig, seine Erinnerung daran, dass unsere europäischen Demokratien nicht nur tolerant, sondern bitte auch wehrhaft sein mögen, ist hilfreich, und der Schlussappell "Keine Freiheit den Feinden der Freiheit" sollte wegweisend bleiben.

Wie sähe die Welt aus, wenn die Klügeren tatsächlich immer nachgäben? Antwort: Die Dümmeren würden sie ganz beherrschen. Wolfgang Warner, Stuttgart

Referendum bei uns? Fehlanzeige

Es ist schon peinlich, dass die Türkei mit ihrer "demokratischen Diktatur" und menschenverachtenden Politik Deutschland vorführen kann: Staatschef Recep Tayyip Erdoğan ist wie die Regierungen Frankreichs oder der Schweiz für Verfassungsänderungen auf die Zustimmung des Volkes angewiesen. Ein im Grunde völlig normales Procedere wohl in den meisten Staaten und Staatsformen - auch (nur noch) in Bayern und Hessen für ihr Land; aber ein Vorgang, der uns Deutschen für Deutschland nicht erst seit 1949 (vermutlich schon seit Kaisers Zeiten) vorenthalten wird und völlig fremd geworden ist. Es ist daher ebenso widersprüchlich wie volksverdummend, wenn die deutschen Regierungen seit 1990 Regierungen anderer Staaten "Demokratiedefizite" vorwerfen, während sie ihrem eigenen Volk eine selbstbestimmte Verfassung verwehren.

Über Jahrzehnte haben wir gelernt, dass das Grundgesetz ausweislich der Präambel und dem letzten Artikel (146) ein Provisorium bis zu dem Tage ist, an dem "eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist". Die heutige Lesart, nach der das Grundgesetz durch den Beitritt der DDR abschließend die gesamtdeutsche Verfassung geworden sei, fußt auf einer dreisten Manipulation der Regierung in 1990. Durch sie wurden die Deutschen vorsätzlich um den elementaren Akt, sich eine Verfassung als "gemeinsamen Nenner" und Bezugspunkt zu geben, betrogen.

In Deutschland gibt es bisher nur in Bayern und Hessen ein (Landes-)Verfassungsreferendum; für Bayern spürbare Grundlage bürgerschaftlichen Stolzes. Deutschland beklagt in allen (sozialen) Bereichen einen zunehmenden Mangel an Identität.

Es ist ungeheuerlich genug, dass eine "Bundes"Regierung "ihr" Volk zu Grundsatzfragen des Gemeinwesens entmündigt. Dass es ausgerechnet der Problemstaat Türkei ist, der seine Finger schmerzhaft in unsere hausgemachte Wunde legt, könnte den Deutschen als Volk ein Signal sein, von der Bundesregierung bayerngemäß endlich seine Mündigkeit einzufordern. Paul Busse, Freiburg

Gefahr für die Sicherheit

Die türkischen Staatsangehörigen in Deutschland können sich für ihre Wahlentscheidung ausreichend über ihre türkischen Zeitungen und Fernsehsender informieren. Es bedarf keiner Wahlauftritte türkischer Politiker hier. Die politischen Probleme der Türkei müssen nicht in Deutschland ausgetragen werden mit Demonstrationen und Gegendemonstrationen, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden. Jürgen Voigt, Dortmund

© SZ vom 24.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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