Antisemitismus:Die Verdrängung hält bis heute an

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Was hat die Politik Israels mit der Judenfeindlichkeit in Deutschland zu tun? Und: braucht Deutschland einen Antisemitismusbeauftragten? Kontroverse Leserbriefe haben uns zu diesem Thema erreicht.

Zu "Nie wieder. Schon wieder. Immer noch" vom 18. Dezember und "Steinmeier verurteilt 'neuen Antisemitismus' vom 13. Dezember sowie weiteren Artikeln über Antisemitismus und die Entscheidung Donald Trumps zu Jerusalem erreichten uns zahlreiche Leserbriefe. Hier eine Auswahl:

Getarnt als Antizionismus

Heute ist der Antisemitismus insbesondere von den Rechten - siehe Björn Höcke von der AfD - so giftig wie noch nie und wird auch von vielen Pseudo-Linken unter das Volk gebracht. Stellt er sich bei den Braunen so dar, dass das Gedenken an die ermordeten Juden als "Schande" verleumdet wird, so ist es bei den Linken so, dass die unselige Entscheidung Donald Trumps, die US-Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, als Vorwand dient, einen Antisemitismus auszuleben, der sich als "Antizionismus" tarnt. Das Verbrennen israelischer Flaggen auf deutschen Straßen und Plätzen ist ein Stich ins Herz jedes aufrechten Demokraten und Antifaschisten.

Im Bereich der politischen Bildung wurde trotz des Bemühens etwa der Bundeszentrale für politische Bildung bisher viel zu wenig getan, um über Ursachen und Wirkungen des Antisemitismus zu informieren. Solange Synagogen, jüdische Einrichtungen und Juden auch physisch bedroht sind und solange Juden unter Polizeischutz gestellt werden müssen, nicht nur wenn sie sich politisch engagieren, muss von einem Armutszeugnis in Sachen Bewältigung des deutschen Antisemitismus gesprochen werden.

Es wäre höchste Zeit, dass das sowohl von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in diesen Tagen als auch vom Bundesinnenminister Thomas de Maizière angemahnte Ziehen von Konsequenzen, etwa durch die Einrichtung eines Antisemitismusbeauftragten, unterstützt würde. Antisemitismus, gleich von wem ausgeübt, ist immer menschenverachtend und widerlich. Das Thema muss ganz oben auf der Skala politischen Handelns in dieser Republik stehen. Manfred Kirsch, Neuwied

Im Restrauschen

Ein "Antisemitismusbeauftragter", wie er auch von Heribert Prantl gefordert wird, ist Geldrauswurf. Denn alle verfügbaren Daten zeigen, dass die Häufigkeit antisemitischer Einstellungen in Deutschland kontinuierlich sinkt - sowohl über die vergangenen Jahrzehnte als auch über die vergangenen 15 Jahre (Antisemitismusbericht 2017, Seite 62), auf ein Niveau, das im Restrauschen liegt. Zum Beispiel wollen keine Juden als Nachbarn haben: fünf Prozent der Bevölkerung - praktisch ebenso viele wie keine schwarzen Nachbarn (vier Prozent) oder keine Italiener (drei Prozent). Dagegen keine Osteuropäer 14 Prozent, keine Muslime 21 Prozent, keine Sinti und Roma 31 Prozent (AS-Bericht 2017, Seite 69).

Ein Antisemitismusbeauftragter wäre auch kontraproduktiv. Denn da Muslime von der Gesellschaft so wenig respektiert werden, muss man sich nicht wundern, dass sie quasi spiegelbildlich Ressentiments gegen andere Minderheiten hegen. Das ist eine ungute Spirale der Respektlosigkeit. Ein Antisemitismusbeauftragter ohne den objektiv viel notwendigeren Antiislamismusbeauftragten wird daher kein Problem lösen, sondern selber Teil des Problems sein. Prof. Rolf Verleger, Lübeck

Unwillige Kultusministerien

Heribert Prantl hat in "Nie wieder. Schon wieder. Immer noch" eine Malaise schulischer und politischer Bildung zum Thema Antisemitismus beklagt und kommt zu dem Ergebnis: "Es kann ja nicht damit getan sein, nur an Gedenktagen über den Antisemitismus in Deutschland nachzudenken." Bis hierhin hat er recht. Unrichtig ist die Aussage: "Eine systematische Recherche, ein umfassendes Nachdenken über den Antisemitismus in Deutschland findet bisher nicht statt." Beleg hierfür sind umfangreiche Arbeiten von Ernst Simmel, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Wolfgang Benz, Moishe Postone, Micha Brumlik, Götz Aly, Daniel J. Goldhagen, Friedrich Battenberg.

Richtig ist, dass vorhandene Forschungsergebnisse über Recherche und Nachdenken über Antisemitismus nicht den Weg aus den Fachbereichen der Universitäten in die Schulen finden konnten, weil sie von den Kultusministerien nicht nachgefragt wurden. Der Weg in die Lehrpläne und die zu genehmigenden Lehrbücher war dadurch, weil politisch nicht gewollt, versperrt. Die beklagte Malaise stellt sich als ein Beispiel des Verdrängungsprozesses von jüngster Geschichte in der Nachkriegszeit dar. Dieser dauert bis heute an.

An dieser Stelle sei auch auf eine besondere Verdrängungsleistung vieler Historiker hingewiesen: die Verdrängung der Kammerknechtschaft. Friedrich Battenberg, Jurist, Historiker, Archivar, hat das Verdienst, mit einer Vielzahl von Publikationen die rechtliche Stellung der Juden an das Licht der Öffentlichkeit geholt zu haben. Er konnte belegen, dass Staat und Kirche in der Geschichte Juden einem Schicksal unterworfen haben, das sie buchstäblich zu seelenlosen Sachen degradieren und ihnen jede menschliche Würde bestreiten sollte. Juden waren als Sklaven/Leibeigene seit dem elften Jahrhundert bis zur Emanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts weltlichen Herrschern unterworfen, die Juden als Eigentum betrachteten, mit dem sie nach Belieben verfahren konnten. Diese von Kaiser Friedrich II. (1212 - 1250) erlassene staatliche Gesetzgebung fußte auf den Lehren des Kirchenvaters Augustins (354 - 430). Auch heute, in vielen Köpfen übernommen, dient ihr menschenverachtender Charakter als Grundlage für antisemitisches Denken. Würden Schulen derartige Kenntnisse vermitteln, könnte Prantl vermutlich keine Malaise mehr beklagen. Dr. Heiner Ehrbeck, Bad Vilbel

Kritik wird unterbunden

"Antisemitismus darf in unserem Land nie wieder geduldet werden" - das ist mein Credo seit meiner Jugend. Wenn jedoch heute jegliche Kritik an der staatlichen Politik Israels als Antisemitismus diffamiert wird, wird es problematisch. Unsere Vergangenheit verpflichtet uns, gegen Antisemitismus einzutreten. Sie verpflichtet uns aber nicht, alles zu akzeptieren, was der Staat Israel heute tut. Und es kann auch kein Antisemitismus sein, wenn jüdische Bürger des Staates Israel selbst Kritik üben an der staatlichen Politik. So wird es aber seit einiger Zeit bei uns gehandhabt. Da stellt sich die Frage, ob ein Antisemitismusbeauftragter hier hilfreich ist oder nicht. Wenn es dazu führt, noch strikter jegliche Kritik zu unterbinden, brauchen wir ihn nicht. Sonja Schmid, München

Forderung nach offenem Diskurs

Deutschland braucht keinen Antisemitismusbeauftragten, Deutschland braucht eine klare Diskussion darüber, was Antisemitismus ist und warum sachliche Kritik an Israels Besatzungspolitik das nicht ist. Vor allem aber braucht Deutschland den Mut, sich öffentlich zu einem klaren "Nein!" zu Menschenrechtsverletzungen zu bekennen - auch und gerade, wenn sie von so einem engen Verbündeten wie Israel ausgehen. Der Beauftragte wird ein ähnlich absurdes Instrument werden wie die Anti Defamation League in den USA. Wie wär's stattdessen mit der Forderung nach konsequenter Verfolgung antisemitischer Straftaten und offenem Diskurs zum Unterschied zwischen Juden(hass) und Israel(kritik)?! Nirit Sommerfeld, Grafing

Völkerrecht mit Füßen getreten

Für Palästinenser gehört keine antisemitische Gesinnung dazu, um Hass auf den Staat Israel zu empfinden. Wer vielleicht zwei oder drei Vertreibungserfahrungen in seiner Biografie mit sich trägt, kann sich nicht damit abfinden, dass Kritik an der Politik Israels in Deutschland tabuisiert wird. Ich will die unsäglichen Vorgänge bei manchen Demonstrationen nicht kleinreden. Aber die Empörung darüber soll offensichtlich wieder nur davon ablenken, wie Israel, demonstrativ unterstützt von der Trump-Regierung, das Völkerrecht und die Menschenrechte mit Füßen tritt. Jetzt, 70 Jahre nach der Herrschaft des Antisemitismus in Deutschland, dafür einen besonderen Beauftragten zu berufen, wäre ein Witz angesichts der Tatsache, dass sich die Judenmörder und Nazipropagandisten nach 1945 noch jahrzehntelang in höchsten Stellen der Politik, Justiz und Gesellschaft tummeln durften. Nicht der Antisemitismus hat in Deutschland zugenommen, sondern die Kritik an Israels Politik. Und dagegen ziehen die Israel-Freunde verschärft zu Felde. Dr. Rüdeger Baron, Röthenbach

© SZ vom 29.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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