Werben um die Besten:Die Absolventenjäger

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Feiner Zwirn und Pfefferminzpastillen: Wie Unternehmen nach dem 23-jährigen Absolventen mit Promotion, vier Jahren Berufserfahrung und interkultureller Kompetenz fahnden.

Elisabeth Dostert

Marcus Kruckow ist 24 Jahre alt und weiß, was er will. Er wirkt wie einer, der es schon lange weiß. "Ich will kein kleines Rädchen in einem großen Konzern sein, das nichts bewegt." Kruckow hat in Großbritannien Abitur gemacht und dann mehrere Jahre in Berlin für Siemens gearbeitet, erst als Übersetzer, dann als Software-Entwickler. Nun studiert der Mann im dritten Semester an der Universität Witten/Herdecke Wirtschaftswissenschaften. So steht es auf seiner Visitenkarte.

Die Uni Bonn verabschiedete dieses Jahr 900 Absolventen. Nur wenige Berufseinsteiger schaffen es auf die Wunschlisten der Arbeitgeber. (Foto: Foto: dpa)

"Ein Sonderangebot", sagt er und lacht ein wenig verlegen. Kruckow hat sie sich im vergangenen Jahr für die so genannten Heiratsmärkte drucken lassen. So heißt die jährliche Recruiting-Veranstaltung der Universität Witten/Herdecke. Das englische Wort "recruiting" heißt übersetzt Anwerbung. Andere laden zum "Career Day", also Karrieretag. Der Verein Deutscher Ingenieure nennt seine jährlichen Werbetage auf dem Campus der Leibniz-Universität in Hannover "Kiss Me".

Die der Markt nicht will

Bei der Suche nach jungen Führungskräften bedienen sich die Unternehmen gerne des zwischenmenschlichen Vokabulars, schließlich geht es auch um die Anbahnung einer mehr oder minder langfristigen Beziehung. Da schadet ein wenig Leidenschaft nicht.

250.000 Absolventen verließen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im vergangenen Jahr deutsche Hochschulen, neun Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Doch das Heer junger Akademiker erfüllt die Wünsche der Unternehmen und Dienstleister offensichtlich nur ungenügend. Zwar gibt es keine Daten darüber, wie viele Hochschulabsolventen sich unmittelbar nach dem Abschluss ihres Studiums arbeitslos melden. Aber eine Zahl der Bonner Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV), sie gehört zur Bundesagentur für Arbeit, lässt zumindest ahnen, wie viele der jungen Akademiker der Markt nicht will. Im Jahr 2005 meldeten sich gut 140.000 Akademiker ohne Berufserfahrung im angestrebten Beruf arbeitslos.

Auf der Suche nach den wahren Talenten scheuen die Unternehmen weder Mühe noch Kosten: Im September lud der Textilhändler Peek & Cloppenburg Abiturienten, Studenten und Hochschulabsolventen zum Golfspiel nach München, um das Handicap zu verbessern und um, wie es in der Ausschreibung hieß, "ganz nebenbei erste wichtige Kontakte für die persönliche berufliche Zukunft" in der Modebranche zu knüpfen. Voriges Wochenende karrte der Wirtschaftsprüfer Deloitte & Touche seine Auserwählten zum Fallstudienseminar nach Mallorca. Mehrere Hundert Recruiting-Veranstaltungen finden jedes Jahr in Deutschland statt - ein Wanderzirkus der Talentjäger.

Auf ihren Visitenkarten steht häufig "Human Resources". Der Begriff zeigt deutlich, um was es geht: um menschliches Kapital, um einen Produktionsfaktor, der für den unternehmerischen Erfolg so wertvoll ist wie Geld oder Rohstoffe.

"Es geht nicht nur ums Geld"

Am Gehalt soll es nicht scheitern. Einstiegsgehälter von 40.000 Euro jährlich aufwärts sind durchaus üblich. Der Discounter Aldi lockt Führungsnachwuchs mit einem Jahresverdienst von 58.800 Euro.

"Ich würde lügen, wenn ich sage, das Einkommen ist mir gleichgültig", sagt Philipp Grüber, 22. Er studiert im 5. Semester an der European Business School (EBS), einer privaten Eliteuniversität im Rheingau, und verbringt gerade ein Auslandssemester in Grenoble. Zwei Praktika hat er schon gemacht: eines beim sauerländischen Automobilzulieferer Kostal, das andere im Bankkonzern Credit Suisse. "Es geht nicht nur ums Geld. Wer einen Job nur wegen des Geldes macht, kann sich nicht voll engagieren", meint Grüber. Nach dem Bachelor, jenem akademischen Grad, der im Rahmen der Vereinheitlichung der europäischen Studienabschlüsse auch in Deutschland eingeführt wurde, und dem Master, der nächsten akademischen Stufe, will sich Grüber "wenn möglich, eine Pause gönnen und arbeiten". Er will etwas bewegen, Abwechslung, vielleicht erst für ein Beratungsunternehmen arbeiten, und sich irgendwann selbständig machen. Die endgültige Entscheidung ist noch nicht gefallen.

Kruckow ist mit einem Kumpel für ein paar Tage in den Rheingau gereist, um sich auf der Recruiting-Messe der EBS auf Schloss Reichartshausen umzutun. Sie ist Teil des jährlichen Symposiums, das die Studenten organisieren, die Suche nach Sponsoren inbegriffen. Im weißen Zelt zwischen Hauptgebäude und Kiep-Center präsentieren sich vor allem Unternehmensberatungen und Banken, aber auch Familienunternehmen wie Aldi oder Brose und börsennotierte Konzerne wie Fraport, RWE oder Siemens.

Die Auftritte ähneln sich branchenunabhängig: halbrunde Stellwände, in weiße Tücher gehüllte Bartische, Kugelschreiber, Pfefferminzpastillen in Blechdosen und Schlüsselbänder mit dem Firmenlogo. Die Studenten im gedeckten Zwirn und die Studentinnen im eleganten Hosenanzug oder im dunklen Kostüm mit knielangem Rock sind von ihren Talentjägern kaum zu unterscheiden. Auch Kruckow trägt die gängigen modischen Insignien beruflichen Erfolgs.

"Der Kampf um die Talente ist härter geworden", sagt Susanne Sigl vom Beratungsunternehmen Roland Berger. Der Druck gehe nicht nur von der direkten Konkurrenz aus. Stärker als früher präsentieren sich Industrieunternehmen als attraktive Arbeitgeber. Rund 100 Recruiting-Veranstaltungen besucht Sigl im Jahr. Das Messezelt dient nur der Kontaktaufnahme.

Roland Berger pflegt wie viele andere Firmen auch Partnerschaften zur EBS oder anderen Universitäten, um sich früh den Zugriff auf den Nachwuchs zu sichern. Dem ersten Kontakt folgt ein harter Ausleseprozess. Schon vor der Veranstaltung im Rheingau hatte Sigl Einblick in die Lebensläufe interessierter Absolventen. Gut 20 wurden zu ausführlichen Gesprächen eingeladen. Die hocken nun oben im Forum-Gebäude des EBS in kleinen Büros und reden mit Beratern.

Überdurchschnittliche Noten, Auslands- und Praxiserfahrung und perfektes Englisch gelten als selbstverständlich. In ihren Gesprächen versuchen Human-Resources-Spezialisten wie Sigl und Berater wie Andreas Ramm die so genannten "Soft Skills" des Bewerbers ausfindig zu machen, die schwer zu fassenden Fähigkeiten, die sich schlecht in Noten ausdrücken lassen. Teamfähigkeit gehört dazu, Kommunikationsvermögen, strategisches Denken und Belastbarkeit. Ramm hat selbst an der EBS studiert und knüpfte auf der Recruiting-Veranstaltung den ersten Kontakt zu Roland Berger. Nun stellt er selbst Fragen: Wo steht der Dax? Wer schrieb "Die Glocke"? Wie viele Container passen auf ein Frachtschiff? Immer neue Aufgaben müssen sich die Personalentwickler ausdenken, denn die Netzwerke der Studenten im Internet funktionieren fast ebenso gut wie jene der Talentjäger.

"Wir wissen, dass viele Aufgaben innerhalb der vorgegebenen Zeit gar nicht lösbar sind", sagt Sigl. "Es geht auch nicht um die Lösung, sondern den Lösungsansatz und das Verhalten in Stresssituationen." Eine Simulation des Alltags als Berater. Schon die Bewerber für ein Praktikum bei Roland Berger müssten zwei Praktika über jeweils zehn Wochen und Auslandserfahrung nachweisen, erläutert Sigl. Für die jährlich 120 Praktikumsplätze gibt es 1200 Bewerber. Um die 150 Festanstellungen als Berater buhlen 4000 Interessenten. Nicht viel anders sehen die Auslese-Quoten bei der internationalen Konkurrenz aus.

"Quantität ist nicht gleich Qualität", sagt Achim Oettinger, Leiter des Personalmarketing des Automobilzulieferers Brose. Bei dem Familienunternehmen aus dem fränkischen Coburg mit weltweit 9000 Beschäftigten bewerben sich jährlich 20.000 Menschen um einen Angestellten-Job. Am Ende werden rund 200 eingestellt. Oettinger zu täuschen ist schwer. In den ausführlichen Gesprächen zeigen sich die Soft Skills meist schnell. "Der erste Eindruck bewahrheitet sich meist", sagt er.

Oettinger kämpft gegen die Verlockungen bekannter Markennamen und großer Städte. "Eine meiner wichtigsten Aufgaben ist es, die Attraktivität von Brose als sehr dynamisches Unternehmen mit flachen Strukturen herauszustellen", sagt der Personalentwickler. Oettinger meidet inzwischen Recruiting-Veranstaltungen in Berlin: "Wenn da einer Coburg hört, winkt er meist ab."

Christopher Jahns macht sich keine Sorgen um seine Absolventen. Der 36-Jährige ist seit Mitte des Jahres Rektor der EBS. "98 Prozent unserer Absolventen haben schon sechs bis zwölf Monate vor dem Ende ihres Studiums einen Job sicher", sagt Jahns. Die Nachfrage nach richtig guten Leuten wachse. Der Druck auf die Studenten fange aber immer früher an, auch weil aus Asien hochbegabte, mehrsprachige junge Leute auf den deutschen Markt drängen für relativ geringe Gehälter.

"Der Markt wird enger und die Anforderungen werden höher", sagt Jahns: "Die Firmen suchen den 23-jährigen Absolventen mit Promotion, vier Jahren Berufserfahrung und interkultureller Kompetenz. Völlig übertriebene Anforderungen." Die Studenten wetteifern deshalb um den besten Lebenslauf. Jahns hält das für eine ungesunde Entwicklung. "Wir sagen den Studenten auch schon mal, lass' doch das dritte oder vierte Praktikum weg, schnall' Dir den Rucksack um und mach' mal Ferien. Macht die Praktika für Euch und nicht für den Lebenslauf." Aber nur langsam setze sich diese Einsicht auch bei den Unternehmen durch: "Die klagen darüber, dass sie eine breitere Masse mit tollen Lebensläufen kriegen, aber wirkliche Talente mit individuellen Lebenserfahrungen immer noch Mangelware sind."

Die Anforderungen korrelieren mit Größe und Eigentümerstruktur. Die Welt börsennotierter Konzerne und Beratungsfirmen erfordere ein anderes Führungsprofil als Mittelständler. "Familienunternehmen suchen Leute, die wissen, dass jeder ausgegebene Euro der eigene ist; die wissen, was es heißt, in der sechsten Generation ein Unternehmen zu führen und was es bedeutet, so eine Firma an die Wand zu fahren und als gescheiterte Generation dazustehen, und die wissen, dass jeder Stellenabbau mit abfälligen Blicken im örtlichen Sportverein quittiert wird", sagt Jahns.

Kruckow wird sein Studium 2008 beenden, und dann will er in das Bachelor-Programm von Roland Berger. Die Beratung reizt ihn, weil sie abwechslungsreich sei. "Da kann ich in kurzer Zeit tiefen Einblick in viele Unternehmen bekommen", sagt er. Vielleicht macht er sich auch selbständig, irgendwann.

© SZ vom 28.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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