Studentenansturm:Vorlesungen in der Kirche

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Die Zahl der Studienanfänger ist in diesem Jahr höher denn je. Um die vielen Menschen unterzubringen, sind die Hochschulen kreativ geworden und verlegen Veranstaltungen in Baumärkte, Kirchen, Kinos und ähnliches. Auch an der Universität Kassel haben sich die Verantwortlichen einiges einfallen lassen.

Johann Osel

Die Plakate kündigen die Abenteuer von Tim und Struppi an und eine Actionkomödie mit Eddie Murphy - aber diese cineastischen Versprechungen werden an diesem Nachmittag nicht eingelöst. Im größten Saal des Cineplex-Kinos in Kassel geht es um Granit, Quarzdiorit und Basalt, denn Michael Schmidt doziert über "Werkstoffe des Bauwesens". Etwa 300 Studenten, 19 bis 21 Jahre alt und im ersten Semester Bauingenieurwesen, sitzen auf den flauschig-roten Kinosesseln. Zum Mitschreiben bleibt ihnen zwar nur die schmale Popcorn-Ablage - aber das sei nicht schlimm, sagt einer, die Unterlagen gebe es auch im Internet.

Studenten verfolgen in der evangelischen Auferstehungskirche in Kassel die "Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten". (Foto: picture alliance / dpa)

Dass die Uni ein Kino mietet, ist in Kassel kein Kuriosum mehr. Es werden ja auch Vorlesungen in einem evangelischen Kirchenhaus abgehalten oder im Philipp-Scheidemann-Haus, wo sonst Konzerte und Kommunisten-Tagungen stattfinden. Denn baulich ausgelegt ist die Uni für 12.000 Studenten, aber zum Wintersemester waren knapp 22.000 eingeschrieben - und es wären mehr als 30.000, hätten nicht 42 Studiengänge einen Numerus Clausus. Wegen der Aussetzung der Wehrpflicht und doppelter Abiturjahrgänge in einigen Ländern erlebt nicht nur die Universität Kassel einen Rekordansturm. An Hochschulen von München bis Bremen herrscht Ausnahmezustand: 515.800 Frauen und Männer haben nach Angaben des Statistischen Bundesamts 2011 ein Studium begonnen, 16 Prozent mehr als im Vorjahr. Insgesamt gibt es derzeit 2,4 Millionen Studenten.

Deshalb sind die Unis kreativ geworden. In Braunschweig etwa wurden die Studienanfänger im Fußballstadion begrüßt, andernorts Baumärkte und Baumwollspinnereien umgebaut, und einige Unis motzten zuvor ungenutzte Kemenaten zu Seminarräumen auf. Kreativ ist auch die Personalpolitik: Da werden Hochschullehrer im Ruhestand reaktiviert, Dozenten mit flexiblen Verträgen eingestellt, Professuren doppelt besetzt, damit beim Übergang keine Vakanz entsteht. Eine Hoffnung heißt E-Learning.

Das alles ist aber nur eine Verwaltung des Notstands - auch wenn der Hochschulpakt von Bund und Ländern wegen der erwarteten demographischen Entwicklung 9,4 Milliarden Euro für zusätzliche Studenten bis 2015 vorsieht. Die Universität Kassel erhält aus diesem Pakt 2011 gut acht Millionen Euro, weitere Millionen aus dem Ersatz-Topf für die in Hessen weggefallenen Studiengebühren, von hier und dort Extra-Geld. Der Präsident der Uni Kassel, der Volkswirtschaftler Rolf-Dieter Postlep, nennt das "hilfreich", es schaffe "ein Stück weit Luft in der Unterfinanzierung".

Aber wie sollen die Hochschulen immer mehr Bewerber ausbilden, ohne dass die Qualität der Bildung leidet? "Das ist die große Kunst", sagt Postlep. "Wir können nicht eine Generation, die jetzt zufällig in Massen an die Universitäten strömt, vom Studium ausschließen. Umgekehrt dürfen wir uns es nicht erlauben, ein schlechteres Studium anzubieten." Insgesamt seien die Hochschulen schlichtweg unzureichend versorgt. Hessen etwa hatte die Grundfinanzierung 2010 um 30 Millionen Euro pro Jahr gesenkt und dafür Planungssicherheit bis 2015 versprochen. Teils unter Protest hatten die Rektoren eingewilligt.

Der Ansturm der Studenten lässt sich auf dem Campus in der Kasseler Innenstadt beobachten, es ist ein Dorf aus roten Backsteinbauten. Hier ist es voll und laut, die Studenten palavern, rauchen, eilen weiter. Jetzt ist es Nachmittag, aber am frühen Vormittag und bis in den späten Abend hinein geht es nicht viel anders zu. Denn Postlep hat, wie viele seiner Kollegen, den Stundenplan auf die "Randzeiten" ausgeweitet, um Räume besser zu nutzen. Trotzdem bildet sich vor dem Hörsaal 0117, wo eine Einführung für angehende Lehrer stattfindet, eine Menschentraube. Für 255 Personen ist der Raum ausgelegt, hinein wollen 300. Sie tragen weitere Stühle herbei, sitzen auf den Treppen, am Ende schließt jemand die Tür mit Schmackes. Nach fünf Minuten geht die Tür wieder auf, ein blondes Mädchen "musste einfach wieder hier raus". Dass sie an der Uni nur eine Nummer sein werde, habe sie gewusst - aber von diesen Zuständen sei sie doch überrascht. Ihren Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, denn: "Meckern gleich am Anfang, das kommt nicht gut."

Keine Entspannung der Lage in Sicht

Seinen Namen nennen will hingegen Filip Heinlein, 26. Bei ihm gehen die Beschwerden ein, wenn etwa in einer Pflichtveranstaltungen für 30 Leute 65 sitzen oder aus wichtigen Kursen Studenten "rausgelost" werden. Denn Heinlein ist beim Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) Referent für Hochschulpolitik.Es sei ja verständlich, dass ein überfülltes Seminar nicht gut funktioniert, sagt er. "Andererseits darf man nicht erwarten, dass die Leute dann in der Regelstudienzeit fertig werden." Und die Lage wird sich 2012 nicht entspannen. "Was kommt dann? Zelte aufstellen?" Das hat übrigens die Uni Paderborn gemacht.

Immerhin gibt es in Kassel noch keine Container-Siedlungen wie in anderen Städten oder Appelle an die Bevölkerung, jede freie Kammer an Studenten zu vermieten. Aber auf den schwarzen Brettern der Uni sind selbst von Inseraten für überteuerte Einliegerwohnungen in der hessischen Provinz alle Streifen abgerissen. Und der AStA fragt "Kinderzimmer frei?" Studenten sollen preisgünstig bei Familien unterkommen.

Zumindest die Misere mit den Vorlesungsräumen soll sich in Kassel im Sommer 2014 entschärfen, dann wird ein neues Campus-Zentrum fertig. Aber werden die neuen Gebäude nicht langfristig ein Fall für die Abrissbirne sein? Wo doch spätestens von 2020 an die Zahl der Studenten rasch sinken wird? Der Kasseler Uni-Präsident Postlep hat da keine Sorgen: "Wir richten uns langfristig auf gut 22.000 Studierende ein, das braucht auch diese Region an Kapazität, um den Arbeitsmarkt vernünftig zu bedienen." Die Nachfrage nach akademischer Bildung werde weiter wachsen, auch das Studierverhalten ändere sich. "Zwei Drittel werden künftig mit dem Bachelor erst einmal in den Beruf gehen, aber vielleicht schon nach fünf Jahren wieder hier sitzen zum Masterstudium." Für dieses "lebenslange Lernen" arbeite man derzeit an flexiblen Modellen wie berufsbegleitenden Studiengängen. Flexibel sein - das ist die Hauptaufgabe an der Spitze einer überfüllten Uni.

© SZ vom 24.11.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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