Pisa-Bundesländervergleich:"Viele 15-Jährige können schlecht lesen"

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In der kommenden Woche wird der Pisa-Länder- vergleich veröffentlicht. Studienleiter Manfred Prenzel erwartet heftige Reaktionen. Doch er warnt vor Hysterie.

T. Schultz

Den Deutschen steht eine neue Pisa-Studie bevor. In der kommenden Woche präsentieren die Kultusminister den Bundesländer-Vergleich, es ist mittlerweile der dritte. Die Daten stammen aus dem Jahr 2006; der internationale Vergleich wurde voriges Jahr veröffentlicht. Deutschlands Schüler hatten sich insgesamt leicht verbessert, nun warten die Politiker gespannt auf die Ergebnisse der einzelnen Bundesländer. Der Pisa-Forscher Manfred Prenzel wünscht sich besonnene Reaktionen.

Manfred Prenzel: "Auch innerhalb einer Schulart und einer Klasse finden wir nämlich große Leistungsunterschiede." (Foto: Foto: dpa)

SZ: Vom Bildungsgipfel der Kanzlerin waren viele enttäuscht. Können die Pisa-Daten neuen Schwung in die Debatte bringen? Oder werden sie den Überdruss und die Müdigkeit fördern, weil man lieber Taten statt Tabellen sehen würde?

Manfred Prenzel: Die Frage ist, ob die Müdigkeit wieder in Hysterie umschlägt. Ich würde mir einen gelasseneren Umgang mit Pisa wünschen. Das heißt aber nicht, dass man sich mit den Ergebnissen zufrieden geben soll. Die Anstrengungen für bessere Schulen müssen weitergehen.

SZ: Bisher lösten die Studien stets Gezänk aus.

Prenzel: Zu befürchten ist, dass auch in diesem Jahr die Länder und Parteien die Ergebnisse für sich möglichst günstig auslegen und mit dem Finger auf die anderen zeigen - nur nicht auf sich selbst.

SZ: Pisa ist eben ein Politikum. Und wo die Empirie endet und die Politik beginnt, lässt sich das wirklich immer scharf trennen?

Prenzel: Es gibt ja ein paar unstrittige Befunde, zum Beispiel unser durchschnittliches Lese- oder Mathematikniveau im internationalen Vergleich oder die hohe Zahl von 15-jährigen Jugendlichen in Deutschland, die nur sehr schlecht lesen und rechnen können: Das sind Fakten.

SZ: Aber sobald Sie die Leistungen nicht nur beschreiben, sondern erklären wollen, wird es kompliziert.

Prenzel: Pisa stößt da an Grenzen, denn es handelt sich um eine Querschnittsstudie. Zwar können wir Trends berichten, weil wir alle drei Jahre testen. Das Schulsystem, die Lehrpläne, die Fähigkeiten der Lehrer, das Lernen in der Familie - all das sind bedeutsame Einflüsse, aber ihr genaues Gewicht können wir mit Pisa nicht bestimmen.

SZ: Ist es fair, ein wirtschaftlich starkes Flächenland wie Bayern mit Berlin oder dem kleinen Bremen zu vergleichen, wo außerdem der Migrantenanteil besonders hoch ist?

Prenzel: Zunächst wollen wir ja nur sehen, wo jedes Bundesland mit seinen Lernergebnissen steht. Das geht am besten durch den Vergleich. Anschließend kann und muss jedes Land überlegen, welche Faktoren die Ergebnisse beeinflussen. In Regionen, in denen viele Akademiker leben, liegt es beispielsweise nahe, dass es mehr gute Gymnasiasten gibt.

SZ: Zum Beispiel in München.

Prenzel: Vergleicht man München mit einer strukturschwachen Region in Bayern, findet man ein Leistungsgefälle innerhalb des Bundeslandes. In früheren Analysen haben wir allerdings auch festgestellt, dass man die Pisa-Ergebnisse eines Landes nur zu einem kleinen Teil durch Wirtschafts- und Sozialdaten erklären kann.

SZ: Es gibt den Vorwurf, in manchen Bundesländern seien Schüler gezielt auf Pisa vorbereitet worden.

Prenzel: Zunächst ist es ja schön, wenn überhaupt etwas geübt wird. Problematisch wird es, wenn ein Schüler im Test besser abschneidet, als er in Wirklichkeit ist. So etwas geht bei manchen Tests, bei Pisa jedoch nicht. Wir haben eine große Variation an Aufgaben, die die Schüler nicht kennen. Und die Aufgaben sind kaum zu schaffen, wenn man nicht über die verlangten Fähigkeiten verfügt.

SZ: Gegen die guten Ergebnisse in Bayern gibt es den Einwand, dass dort die Teilnahme am Pisa-Test freiwillig ist. In den meisten Bundesländern ist die Teilnahme dagegen obligatorisch. Verzerrt das nicht die Stichprobe?

Prenzel: Da mag es Verschwörungstheorien geben, denen zufolge schlechten Schülern gesagt wird: "Du machst lieber nicht bei Pisa mit!" Wir haben aber keine Anhaltspunkte, dass so etwas vorkommt. Grundsätzlich müssen ja alle Länder die international verbindliche Teilnahmequote von mindestens 80 Prozent erreichen. Um sicher zu sein, dass beim Rest nicht systematisch die schlechten Schüler fehlen, vergleichen wir die Schulnoten der Teilnehmer mit den Noten der Fehlenden. Es gibt da keine Verzerrungen.

SZ: Ein Schulrat oder Minister kann die Stichprobe nicht beeinflussen?

Prenzel: Nein, die Auswahl macht unser Datenzentrum im Zufallsverfahren, die Politik hat da nichts mitzureden.

SZ: Von Pisa erhoffen sich Politiker und Pädagogen auch praktischen Rat.

Prenzel: Manches ist durch unsere Studien in neues Licht gerückt worden, zum Beispiel das Wiederholen einer Klasse. Das "Sitzenbleiben" ist oder war in manchen Bundesländern sehr verbreitet, in anderen weniger. Doch oft bringt das Wiederholen keinen Lernfortschritt, hier hat die Forschung einen wichtigen Hinweis geliefert.

SZ: Besteht bei Pisa nicht die Gefahr, dass die Diagnose das Handeln ersetzt? Vom Wiegen wird die Sau nicht fett.

Prenzel: Wer zu dünn ist, tut aber ganz gut daran, regelmäßig auf die Waage zu steigen, um einen Kollaps zu vermeiden. Wenn Pisa alle drei Jahre testet, ist das ja nicht oft. Dabei liefert Pisa wichtige Hinweise und zeigt zum Beispiel, dass die Schulen versuchen müssen, noch stärker den unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Kinder gerecht zu werden. Auch innerhalb einer Schulart und einer Klasse finden wir nämlich große Leistungsunterschiede.

SZ: Individuelle Förderung versprechen längst alle. Ist es nur eine Phrase?

Prenzel: Pädagogische Zauberei gibt es nicht. Es ist nicht leicht, die Zahl der schwachen Schüler zu reduzieren. Auch das müssen wir in Deutschland erst lernen, und wir brauchen hier Geduld.

SZ: Wie kann die Politik helfen?

Prenzel: Ganztagsprogramme sind ein vielversprechender Weg, zum Beispiel um schwachen Schülern anregende Freizeitangebote zu bieten, bei denen sie nebenbei eine Menge lernen können.

SZ: Beim Bildungsgipfel gab es die Forderung, mehr Sozialpädagogen an die Schulen zu schicken.

Prenzel: Wichtiger fände ich es, an den Schulen mehr Sonderpädagogen zu haben, die mit Lernproblemen umgehen können.

SZ: Für viele Jugendliche ist die Schule in erster Linie ein sozialer Ort. Und es sollte auch ein Ort sein, an dem sie mit Freude bei der Sache sind. Bei all den Prüfungen und Tests gerät leicht in Vergessenheit, dass Bildung sich nicht in Noten und Leistungspunkten erschöpft.

Prenzel: Die Schule ist am besten, wenn Lehrpläne und Prüfungen nicht zu wichtig genommen werden. Die Begeisterung für Inhalte - darauf kommt es an. Und wenn es gelingt, Schüler für eine Sache zu begeistern, braucht man sich auch um die Tests nicht so zu sorgen.

Als Koordinator des deutschen Pisa-Teams steht der vom Wesen her eigentlich eher zurückhaltende Erziehungswissenschaftler Manfred Prenzel im Licht der Öffentlichkeit. Nur wenige sozialwissenschaftliche Studien sind so aufwendig und so brisant wie Pisa, entsprechend heftig sind jedes Mal die Reaktionen. So ist "Mr. Pisa" in den vergangenen Jahren "um ein paar graue Haare reicher" geworden, wie Prenzels Frankfurter Kollege Eckhard Klieme vor kurzem in einer Laudatio bemerkte. Und als Leiter des Kieler Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften wird Prenzel ein gefragter Experte bleiben, auch wenn er für den nächsten Test-Zyklus (Pisa 2009) die Rolle des Koordinators an Klieme weiterreicht.

© SZ vom 10.11.2008/bön - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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