Orientierungszeit:Ein Jahr absolute Freiheit

Lesezeit: 4 min

Auf Reisen gehen, Neues erleben, eine gute Zeit dafür ist gleich nach dem Abi. Ein Sprachkurs oder eine Aufgabe im Sozialbereich macht sich auch gut im Lebenslauf. (Foto: Sean Gallup/Getty Images)

Nach dem Abi beginnt eine Phase des Ausprobierens und des Reisens. Idealerweise lassen sich die Projekte, an denen man teilgenommen hat, für den Lebenslauf verwenden.

Von Christine Demmer

Britta aus Lüneburg hat im vergangenen Sommer Abitur gemacht, angesichts von G8 gleichzeitig mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder Ole. Genaue Vorstellungen über ihre berufliche Zukunft hatten beide nicht. Britta will entweder Grundschullehrerin oder Fotografin werden, Ole vielleicht Ingenieur wie sein Vater. Eben vielleicht. "Warum muss ich das jetzt schon wissen?", konterte er empört, wann immer seine Mutter vorsichtig nachfragte. Die wäre zwar beruhigter gewesen, hätte er wenigstens angedeutet, wozu er sich berufen fühle. Doch sie ließ ihren Sprösslingen Zeit: Ole für eine längere Reise in die USA, Britta zum Jobben in einer Geschenkboutique. Hätte die Mutter mehr Druck machen sollen? "Nein", sagt die Hamburger Studienberaterin Olivia Byza mit Nachdruck, "vom Standpunkt der Arbeitgeber aus gesehen, haben Jugendliche im Jahr nach dem Abi Narrenfreiheit." Da sollten sie machen dürfen, worauf sie Lust hätten: Reisen, jobben, soziale Dienste, ein Bundesfreiwilligenjahr. Wenn sie wollen, auch Kröten über die Straße tragen. "Es wäre aber klasse, wenn sie aus dieser Zeit etwas für den Lebenslauf mitnehmen würden", setzt Byza hinzu. Einen Sprachkurs mit Zertifikat, ein Praktikum oder eine Bescheinigung, ein halbes Jahr lang eine kleine Welt gerettet zu haben.

Zwölf Monate lang nichts tun und auf die richtige Eingebung warten, davon raten Fachleute ab

Fast alle Schülerinnen und Schüler, die ins Hamburger Büro von Olivia Byza kommen, haben nicht den Anflug einer Ahnung, auf welchen Beruf sie Lust haben. Viele macht es nervös, wenn von allen Seiten Fragen auf sie einprasseln, auf die sie keine Antwort haben. Byza ist Psychologin: "Ich beruhige sie erst mal und sage, dass das ganz normal ist." Das Gleiche hören die jungen Kunden von Thorsten Schütz aus Bonn, auch er ist Studienberater und Job-Coach. Mit dem Erhalt des Reifezeugnisses ist man nicht gleich eine gereifte Persönlichkeit. Manche brauchen eine Nachfrist. Aber von einem ganzen Jahr Nichtstun rät Schütz entschieden ab. "Das kann sehr schnell zu Langeweile und Frustration führen", sagt er. "Während dieser Zeit auf eine Eingebung zu warten, was man mit seiner Zukunft anfangen soll, ist meiner Erfahrung nach nicht zielführend. Diese Frage geht man besser aus einer aktiven Haltung heraus an." Schütz ist kein Fan von Work and Travel: "Schafe scheren oder Erdbeeren pflücken bringt einen nicht so wirklich nach vorne. Dann doch besser richtig reisen oder sinnvoll im In- oder Ausland arbeiten."

Ole und Britta sind inzwischen einen Schritt weiter. Der 18-Jährige arbeitet seit Dezember in einem Ingenieurbüro mit. Seine Schwester beginnt noch in diesem Monat ein Praktikum bei einem Fotografen. Während für Ole feststeht, dass er im Herbst ein Ingenieurstudium beginnen will, schwankt Britta immer noch zwischen Kamera und Lehramt. Im Mai wird sie in ihrer früheren Grundschule hospitieren und will sich danach entscheiden. Olivia Byza hält es für klug, in beide hineinzuschnuppern, wenn einen zwei Berufe interessieren. Wenn junge Menschen Zweifel hegen, ob sie eine Berufsausbildung machen möchten, rät sie davon ab. "Die meisten Abiturienten wollen ohnehin studieren", beschreibt sie ihre Klientel. "Manchmal drängen die Eltern: ,Mach doch lieber eine Ausbildung', umso schneller stehst Du auf eigenen Füßen. Aber heute hat man nach drei Jahren auch ein abgeschlossenes Studium und ein Einkommen." Byza glaubt, ein Studium komme dem Arbeitsmarkt eher entgegen, die Firmen würden das lieber sehen. "Ich empfehle nur dann eine Ausbildung, wenn jemand zielsicher dorthin strebt oder einen elterlichen Betrieb übernehmen will."

Kostenlos und auch mit viel Wissen darüber, was Arbeitgeber schätzen und worüber sie die Augen verdrehen, beraten die Berufswahlexperten der örtlichen Arbeitsagentur. In München betreut Manuela Stock sechs Gymnasien und eine Fachoberschule. In Vorträgen und Einzelgesprächen bemüht sich die Abiturientenberaterin, den jungen Menschen ein Stück weit Orientierung zu geben. Manche seien darunter, die wollten nach dem Abitur einfach nur verschnaufen und zu sich selbst finden, in Deutschland, im Ausland. Alles kann, nichts muss. "Abiturienten haben einen Zeithorizont von etwa drei Jahren", sagt sie. "Denen geht es nicht um die Frage, was in zwei Jahrzehnten sein wird, sondern konkret um das nächste Jahr." Einige streben in die Ferne, herumziehen, am Strand chillen, Hauptsache Wind um die Nase. "Das ist okay", sagt Stock, "die Arbeitgeber akzeptieren das - solange die jungen Leute am Ende dieses Jahres wissen, wohin es beruflich gehen soll." Andere steckten schon mitten in der Entscheidung für ein Studium, wüssten nur noch nicht die genaue Ausrichtung. Denen rät sie zu einem oder zwei Praktika, damit sie sehen, wie es in ihrem Traumberuf wirklich zugeht. Im Hinblick auf junge Menschen mit altruistischer Einstellung, die in ihrem Startjahr ins Berufsleben etwas Soziales machen möchten, meint sie: "Auch da gibt es eine breite Auswahl, das Interesse kann entscheiden."

Von zwei Dingen rät Stock allerdings ab: vom sogenannte Voluntourismus, bei dem sich Organisationen für soziale Mitarbeit im Ausland teuer bezahlen lassen, und vom ziellosen Hin- und Herstudieren. "Ein Semester Betriebswirtschaft und dann ein Semester Philosophie wird von den Arbeitgebern nicht gern gesehen", sagt die Beraterin. "Wenn jemand häufiger das Studienfach wechselt, wird vermutet, dass er oder sie das Pensum nicht geschafft hat."

Dass Ratsuchende gar keine Idee von ihrer Zukunft hätten, komme gelegentlich auch vor. Ihnen empfiehlt Manuela Stock, das Jahr aufzuteilen, zum Beispiel in eine Portion Reisen und eine Portion Praktikum. Mit Nachdruck ins Studium oder in eine Ausbildung treibt sie ihre Kunden nicht. "Die Unternehmen verstehen es, wenn jemand eine längere Orientierungsphase braucht. Die sagen, wenn die Leute in dem Jahr etwas machen, ist das gut für die persönliche Reife. Nur nichts machen, das geht nicht." Wer sich für Freiwilligendienste wie das Weltwärts-Programm oder den Bundesfreiwilligendienst bewerben wolle, müsse sich frühzeitig bewerben, sagt Studienberater Schütz. Wenn man es schaffe, nach dem Abi eine sinnvolle Verbindung zwischen einer Tätigkeit aus freien Stücken und dem angestrebtem Beruf herzustellen, sei das ideal - es müsse aber nicht sein. "In erster Linie geht es ja darum, sich neuen Situationen auszusetzen und daran zu wachsen." In welche Berufe Ole und Britta hineinwachsen werden, wird sich in ein paar Monaten zeigen.

© SZ vom 14.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: