Mein Kollege sagt ...:"Mach nicht mehr so lang"

Lesezeit: 2 min

Keiner geht, solange der Chef noch da ist: So lautet die Devise in vielen Unternehmen. Wer sich trotzdem erlaubt früher Schluss zu machen, den plagt das schlechte Gewissen - gerade in Krisenzeiten.

Julia Bönisch

Wer arbeitet, hat sich gefälligst zwischen Extremen zu bewegen: entweder Burn-out (Stress durch Überarbeitung) oder Bore-out (Stress durch Langeweile), dazwischen geht nichts. Der deutsche Angestellte ist offensichtlich immer krank. Mal hat er sich zu viel zugemutet, mal zu wenig - und beide Zustände wirken sich negativ auf seine Gesundheit aus. Überraschenderweise sogar mit den gleichen Symptomen.

Nachtarbeit: Wenn der Kollege Überstunden leistet, regt sich bei den anderen das schlechte Gewissen. (Foto: Bild: iStock)

Das eine wie das andere löst angeblich unerträglichen Stress aus. Der Kollege wird nervös, reizbar, ist nicht mehr leistungsfähig. Selbst Experten fällt es angesichts der identischen Krankheitszeichen schwer, eine eindeutige Diagnose zu stellen: Geht es dem Mitarbeiter schlecht, weil er zu viel arbeitet? Oder liegt er danieder, weil er stundenlang im Internet surft und völlig unterfordert ist?

Sie kommen früh und gehen spät

Wer meint, Bore-out-Patienten könnten doch einfach pünktlich Feierabend machen und zeitig nach Hause gehen, ist naiv. Denn genauso wie Burn-out-Patienten lieben sie es, Überstunden zu machen. Psychologen behaupten, das gehöre zum Krankheitsbild: Die Betroffenen geben sich unglaublich beschäftigt, sitzen permanent in wichtigen Meetings, sind immer unabkömmlich, kommen früh und gehen spät.

Kein Wunder, dass die deutschen Arbeitnehmer einen riesigen Berg von Überstunden vor sich herschieben: Laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit (BAuA) schuften sie wöchentlich fünf Stunden mehr, als in ihrem Arbeitsvertrag vorgesehen. Das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung geht für das Jahr 2007 von insgesamt 1,474 Milliarden bezahlten Überstunden und noch einmal so vielen unbezahlten aus.

"Kuscheln statt arbeiten"

Was könnte man in dieser Zeit nicht Schöneres tun? Googelt man die Wendung "... statt arbeiten", spuckt die Suchmaschine als erste Wahl erstaunlicherweise "lernen" aus. Besser klingen die Alternativen zwei und drei: "leben statt arbeiten" und "kuscheln statt arbeiten". Außerdem geboten sind Kegeln, Surfen, Singen und Tischtennis. Ja, selbst Pingpong ist offensichtlich schöner als im Büro zu sitzen.

Manchmal, sehr selten nur, wird dem Kollegen bewusst, dass es da draußen eine ganze Welt zu entdecken gibt, in der er genau solche Dinge tun könnte. Dann nimmt er sich fest vor, ausnahmsweise doch mal pünktlich Feierabend zu machen. Wenn er sich um kurz vor sechs daran macht, seine Tasche zu packen, blickt er sich verstohlen um: Ist er jetzt etwa der Einzige? Die Kollegen sitzen noch und tippen. Kann er da wirklich einfach gehen?

Auf der nächsten Seite: Finanzkrise, Rezession, Stellenabbau - die Stunde der Apokalyptiker hat geschlagen. Kann sich der Kollege da einfach verabschieden?

Zwischen ängstlichem Pflichtgefühl und Freiheitsdrang

Vor allem jetzt, in diesen Zeiten, in denen E-Mails vom Chef vor Imperativen und Ausrufezeichen strotzen und die Stunde der Apokalyptiker geschlagen hat? "Durchstarten!" heißt es da, "Gas geben!", "Nicht nachlassen!". Finanzkrise, Rezession, Stellenabbau - darf er sich das leisten?

Prompt hat den Kollegen das schlechte Gewissen gepackt. Die Folge: Pünktlich zu gehen, das bringt er einfach nicht übers Herz. Aber länger bleiben will er doch eigentlich auch nicht mehr. Hin- und hergerissen zwischen ängstlichem Pflichtgefühl und Freiheitsdrang sitzt er an seinem Schreibtisch und rätselt, ob er nun verschwinden soll oder nicht. Dieser Konflikt nimmt ihn so in Anspruch, dass er parallel dazu unmöglich arbeiten kann. Also sitzt er noch geschlagene 30 Minuten brütend da - wieder eine halbe Überstunde mehr.

Langes Ringen mit dem Gewissen

Nach langem Ringen entschließt sich der Kollege doch endlich zum Aufbruch - und verkündet beim Jackeanziehen den ultimativen "Ich habe ein schlechtes Gewissen"-Satz: "Ich geh jetzt. Und du, mach nicht mehr so lang." Und dazu steckt er sich vorsichtshalber noch ein paar wichtige Unterlagen zur Durchsicht ein.

Zu Hause angekommen, kann der gewissenhafte Kollege kaum abschalten. Im Büro sitzen schließlich die anderen und schaffen. Also checkt er via Blackberry noch mal die E-Mails und kramt den Aktenordner hervor. Da hätte er auch gleich im Büro bleiben können.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: