Im Operationssaal:Feinarbeit am Schirm

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Informatiker Philipp Fürnstahl hat ein Programm entwickelt, das Chirurgen die Arbeit erleichtert. Auf dem Bildschirm können etwa Knochen in allen Ebenen und Richtungen genau dargestellt werden.

Von Felicitas Witte

Es spritzt gar kein Blut, er sieht sogar überhaupt keines. Der Chirurg und der OP-Pfleger, die gerade im Operationssaal arbeiten, wirken total entspannt und machen sogar einen Scherz zwischendurch. "Beim ersten Mal im OP war ich total überrascht", erzählt Philipp Fürnstahl. "Die Chirurgen sind gar nicht so bierernst und blutverschmiert, wie man das im Fernsehen öfter sieht."

Fürnstahl ist Ingenieur und leitet die Abteilung für computergestützte Chirurgie an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich. Er hilft Chirurgen dabei, Knochen noch genauer zusammenzuflicken. Im Jahr 2006 - er hatte gerade die Zusage für ein Doktoratsstudium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich bekommen - traf er den Handchirurgen Andreas Schweizer vom Balgrist. "Er ärgerte sich total über das begrenzte räumliche Vorstellungsvermögen des Gehirns", berichtet Fürnstahl. "Knochenteile könnten in so vielen Ebenen verschoben oder verkippt sein, erzählte er mir, dass er sich mitunter nicht vorstellen könne, wie er das korrekt zusammensetzen solle."

Knochenteile können in zahlreiche Ebenen verkippt und verschoben sein

Fürnstahl ist 1978 in Graz in Österreich geboren und mit Computern aufgewachsen - sein Vater war Informatiklehrer. Schon als Grundschüler programmierte der kleine Philipp, er ließ Schildkröten über den Bildschirm trippeln und Linien zeichnen. Spätestens nach dem Abitur war für ihn klar: Er wollte in der Informatik bleiben und studierte schließlich Technische Mathematik mit Schwerpunkt Informatik. Um nebenbei Geld zu verdienen, programmierte er Lernsoftware für Schulbücher und gründete eine Software-Firma. "So konnte ich Erfahrung sammeln und mir schon als Student eine Wohnung kaufen - das war natürlich cool."

Animierte Bildchen ließen ihn auch in der Master-Arbeit nicht los. Er entwickelte ein Computerprogramm mit, das die Leber dreidimensional darstellt und dem Chirurg zeigen kann, wo er exakt schneiden soll. Die Medizin faszinierte Fürnstahl letztendlich derart, dass er sich für ein Doktoratsstudium im Bereich dreidimensionale OP-Planung entschied.

Im Nachhinein sei das genau die richtige Entscheidung gewesen. "Ein Studium ist eine unumgängliche Voraussetzung, um in der Medizintechnik anspruchsvoll forschen zu können", sagt er.

Nach der Promotion blieb ihm allerdings nur kurz Zeit, um einen Job zu suchen. "Ich wollte gerne in der Schweiz bleiben, und wie man ja bekanntlich weiß, ist das Leben hier ziemlich teuer. Außerdem war meine Aufenthaltsgenehmigung an eine Anstellung gebunden." Weil er auf die Schnelle keinen Job im Medizin-Bereich fand, nahm er bei Siemens Schweiz eine Stelle als Software-Entwickler für zivile und nationale Sicherheit an. "Ich merkte aber ziemlich schnell, dass mir die klassische Software-Entwicklung zu langweilig ist", sagt er. "Die Medizin hat mir richtig gefehlt."

Inzwischen hatten Handchirurgen im Balgrist versucht, Fürnstahls Computerprogramme in Eigenregie weiterzuentwickeln. "Das schien aber nicht richtig zu klappen - Ärzte können halt nicht alles selbst machen", sagt Fürnstahl schmunzelnd. Gefreut habe er sich riesig, als der Chef-Handchirurg ihn gefragt habe, ob er die neu gegründete Abteilung für computergestützte Chirurgie leiten wolle. Seit 2012 nun arbeitet er eng mit den Handchirurgen zusammen, die ihn damals auch zu seiner ersten Operation mitnahmen.

An die Operationen hat sich der Informatiker mittlerweile gewöhnt - und auch an die Ärzte. "Viele dachten am Anfang, Informatiker können oder wollen die medizinischen Aspekte und Probleme nicht verstehen." Bei manchen sei das sicherlich auch so. "Man braucht schon ein gewisses medizinisches Vorwissen. Heute würde ich eher Medizininformatik, Medizintechnik oder einen der neuen Studiengänge wie Biomedical Engineering studieren." Ein- oder zweimal war er selbst in einen sterilen Kittel gehüllt mit am Operationstisch und durfte bei der Arbeit der Chirurgen zuschauen. "Das hat mir aber gereicht - wenn ich ein paar Meter weg bin, sehe ich auch genug."

Bei annähernd 50 Operationen war er mittlerweile dabei. "Ich konzentriere mich vor allem darauf, dass ich die einzelnen Arbeitsschritte der Chirurgen beobachte und analysiere. So sehe ich, wo man mit Computertechnik helfen kann." Ist ein Gelenk zum Beispiel in drei Teile gebrochen und so falsch verheilt, dass jedes Teil in eine andere Richtung verkippt und verschoben ist, musste man es in bis zu 18 Ebenen und Richtungen korrigieren - und selbst das Gehirn eines Top-Chirurgen ist damit überfordert.

Kurze Zeit später hatte Fürnstahl mit den Balgrist-Chirurgen eine Lösung gefunden: Die Software MyOsteotomy. Bei einem gebrochenen, falsch verheilten Unterarm spiegelt der Chirurg am Computer die Aufnahme der gesunden Knochen auf die kaputten. Auf dem Schirm ist dann in Grün zu erkennen, wie die Knochen eigentlich hätten verheilen sollen. Ein 3-D-Drucker druckt "Operationshilfen" aus Kunststoff mit Löchern und Schlitzen, und der Chirurg setzt mit Hilfe dieser Schablonen die Knochenteile wie ein Puzzle zusammen. "Das Computerprogramm ist so einfach, dass sogar Ärzte das anwenden können", sagt Fürnstahl. MyOsteotomy nutzen Chirurgen inzwischen auch für Tumoroperationen oder angeborene Knochen-Fehlstellungen. "Ich finde es immer wieder toll zu erfahren, dass Patienten mit Hilfe von MyOsteotomy wieder ihrer Arbeit oder ihren Hobbys nachgehen können."

Aus dem 3-D-Drucker kommen Schablonen, die als Operationshilfe dienen

Das gefalle ihm so an seiner Forschung, dass man rasch einen Nutzen sähe. 2014 gründete Fürnstahl gemeinsam mit dem Balgrist eine Firma, um MyOsteotomy an andere Kliniken zu verkaufen. "Ich schwankte schon immer zwischen Forscher und Unternehmer. Jetzt kann ich beides verbinden, das ist genau das, was ich wollte, aber nie bewusst geplant hatte." Die Firma soll wachsen, Fürnstahl will die Produktpalette erweitern.

Denn die Medizin werde weiter computerisiert werden, dessen ist er sich sicher. "Wir werden bald zum Beispiel mit Hilfe von 3-D-Druck organische Strukturen nachbilden können, so dass man keine synthetischen Ersatzgewebe mehr braucht", sagt er. "Jobs in dem Bereich haben Zukunft."

Fürnstahl rät jungen Jobsuchenden zunächst zu einem Praktikum, um zu sehen, ob sich ihre Vorstellungen auch mit der Realität decken. "Wer sich für Computer und Medizin interessiert, kann sich gerne bei uns bewerben - auch wenn er noch nie Schildkröten programmiert hat."

© SZ vom 28.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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