Führungsstil:Chef per Lizenz

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In Leadership-Zirkeln steht der Begriff "Authentizität" derzeit hoch im Kurs. Viele Manager halten die Eigenschaft für wichtiger als Sozialkompetenz und Fachwissen. Wie geht es den Mitarbeitern dabei?

Von MICHAEL KLÄSGEN

Größer könnte die Kluft kaum sein, wenn von "authentischen Chefs" die Rede ist. Die Kluft zwischen dem, was einerseits an Business Schools gelehrt, in Management-Handbüchern geschrieben und in Führungskräfte-Seminaren trainiert wird. Und was sich andererseits Arbeitnehmer bei ihren Vorgesetzten wünschen oder erleben.

Sucht man Bücher, deren Titel die beiden Wörter "authentisch führen" beinhaltet, spucken Online-Buchhändler mehr als 300 Werke aus. Wer das für viel hält, hat es noch nicht auf Englisch versucht. Zum Thema "authentic leadership" könnte man mehr als 3200 Bücher kaufen. Kein Wunder, dass sich Herminia Ibarra, Professorin an der französischen Business School Insead, angesichts dieses Hypes zu einer kühnen These hinreißen lässt: "Authentisch zu sein, gilt unter Führungskräften derzeit als Goldstandard", sagt sie. Und sie ist mit dieser Einschätzung nicht allein.

Rita Gunther McGrath, Professorin an der New Yorker Columbia University, meint: "Der Wert von Authentizität und Empathie ist unglaublich gestiegen." Deutsche Manager halten "Authentizität" laut Umfragen für wichtiger als Fachkompetenz oder Belastbarkeit. Allerorten wird ihnen das "authentische Führen" in Seminaren, Workshops und Coachings beigebracht. Einerseits.

Andererseits sitzt Markus Wansch, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender von MAN Nürnberg in seinem Büro und sagt: "Ein authentischer Chef ist im Prinzip gar nicht möglich. Authentisch ist man zu Hause." Und Peter Müller, Betriebsrat eines deutschen Autozulieferers, der weder seinen richtigen Namen noch seinen Arbeitgeber in der Zeitung genannt wissen will, erklärt: "Ich hab' spontan kein Bild von einem authentischen Chef vor Augen. Mir sagt das erst mal wenig."

Für Bernd Osterloh, Vorsitzender des Konzernbetriebsrats der Volkswagen AG, greift der Begriff zu kurz. "Wer als Manager oder Managerin erfolgreich sein will", sagt er, "für den geht es im Kern um mehr als nur um Authentizität. Wir wählen unsere Führungskräfte bei Volkswagen auf Basis ihres fachlichen Könnens, ihrer unternehmerischen Kompetenz und ihrer Fähigkeit aus, Menschen gut und verantwortungsvoll zu führen." Deswegen gibt es bei VW die "Führungslizenz". Die braucht jeder, der bei VW Menschen führen soll. Wer sie erhält, darf als sozial kompetent gelten. "Persönlich würde ich mir wünschen", fügt Osterloh hinzu, "dass wir die Führungslizenz auch für neue Vorstände einführen. Denn soziale Kompetenz ist da auch nicht jedem in die Wiege gelegt."

Vor dem Machtkampf: Die VW-Belegschaft des Stammwerks lauscht während einer Betriebsversammlung der Ansprache des Vorstandsvorsitzenden Winterkorn. (Foto: dpa)

Christiane Benner, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und Aufsichtsrätin bei BMW und Bosch, lehnt den Begriff ab. Führungskräfte müssten glaubwürdig und vorbildlich handeln, sagt sie. "Regelungen, die nur auf dem Papier stehen, nützen niemandem. Sie müssen gelebt werden. Auch und gerade von den Vorgesetzten." Es dürfe nicht heißen, um 18 Uhr ist Schluss, aber insgeheim gelten: Wer um 18 Uhr geht, hat keine Chance auf spannende Projekte oder Weiterkommen.

So gesehen scheint authentisches Führen eher ein in akademischen Zirkeln erdachter Leitfaden für Führungskräfte zu sein. Die große Masse in den unteren Etagen, am Fließband oder in der Werkshalle bevorzugt dagegen Konkretes: Rücksicht auf Familie und Freizeit, durch Führungslizenzen zertifizierte Sozialkompetenz und arbeitsrechtlich geregelter Schutz vor Dauerstress. So wie bei BMW.

Dort gilt seit 2014 für knapp 80 000 Beschäftigte eine mit dem Deutschen Betriebsrätepreis ausgezeichnete Vereinbarung zum mobilen Arbeiten. Wenn man von unterwegs berufliche Mails beantwortet, Diensttelefonate von zu Hause aus führt oder daheim am Laptop eine Präsentation vorbereitet, dann rechnet BMW das als Arbeitszeit. Zudem haben die Beschäftigten zu bestimmten Zeiten ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit.

Bei VW gilt für viele Beschäftigte ein SMS- und E-Mail-Stopp nach Feierabend, der Begehrlichkeiten weckt. "Die Regelung kommt nicht nur bei den Tarifbeschäftigten sehr gut an", sagt Osterloh. "Uns haben auch schon Führungskräfte angesprochen, dass sie auch gerne eine solche Regelung hätten." Abhängig Beschäftigte sind an Vereinbarungen interessiert, die ihnen das Leben erleichtern. Diese Regeln haben notgedrungen viel mit der realen Arbeitswelt und oft zähen Verhandlungen zwischen Management und Arbeitnehmervertretern zu tun, aber wenig damit, ob der Vorgesetzte authentisch ist oder nicht. Deswegen können viele Betriebsräte wenig mit dem Begriff anfangen.

Bei Siemens fragt jemand, ob nicht auch Diktatoren authentisch sein könnten. MAN-Betriebsrat Wansch treibt eine ähnliche Frage um: "War Hitler authentisch?", überlegt er laut, um dann zu sagen: "Wenn Hitler authentisch war, dann ist authentisch nicht gut." Die Verfechter der authentischen Führung mögen nun einwenden, dass mit dem Konzept genau das Gegenteil von Personenkult und strenger Hierarchie gemeint ist. Objektiv betrachtet zeigt dies aber, wie groß die Kluft zwischen beiden Sichtweisen ist.

Ohne sie zu kennen, zerpflückt Wansch zudem die These vom Goldstandard. Bei Gold ist es ja so, das es egal zu welcher Zeit eine feste Größe bleibt, zwar vom Wert her schwankend, aber auf jeden Fall verlässlich. Authentizität hingegen wandelt sich mit der Zeit, sagt Wansch. Er denkt dabei an die "alten Ölschinken", die im Besprechungszimmer hängen. Die Firma MAN gibt es seit 1841. Auf den Bildern sind die Gründer, Werksleiter und Produktionschefs der Anfangsjahre zu sehen. "Die waren in ihrer Rolle damals wohl auch authentisch", sagt der Betriebsrat, "obwohl sie sich ganz anders kleideten und redeten als die Chefs von heute." Das heißt, Vorgesetzte und ihr Verhalten sind immer auch ein Spiegel des herrschenden Zeitgeistes.

"Rolle" ist dabei ein wichtiges Stichwort. Wenn Wansch an den idealen Vorgesetzten denkt, schwebt ihm jemand vor, der in der Außenwahrnehmung der Belegschaft die Erwartungen an einen Chef oder eine Chefin möglichst perfekt erfüllt. Die Rollen könnten völlig unterschiedlich sein, nur ehrlich und glaubwürdig, das müsse ein Vorgesetzter immer sein.

"Ich war ein authentischer Heilerzieher und hoffe, ein authentischer Betriebsrat zu sein", sagt Wansch. "Aber das sind zwei komplett andere Menschen. Wenn ich vor 1500 oder 2000 Leuten auf der Belegschaftsversammlung rede, dann spüren die: Mensch, der meint das ehrlich. Als Mitarbeiter würde ich aber etwas völlig anderes sagen. Es kommt auf die Rolle an." Der oder die authentische Vorgesetzte passt sich demnach nicht nur dem Zeitgeist, sondern auch der jeweiligen Situation an und bleibt dennoch ehrlich und glaubwürdig.

SZ-Grafik; Quelle: HMS Think Tank Journalismusforschung 2014 (Befragt wurden im September/Oktober 2014 1037 Berufstätige zwischen 23 und 35 Jahren) (Foto: unknown)

Das klingt so, als müsse der Chef ein wandlungsfähiges Chamäleon sein. Betriebsrat Müller ist aber vom Gegenteil überzeugt: "Den Charakter eines Menschen zu ändern, das geht eigentlich nicht", sagt er. Deswegen sei der Knackpunkt, der darüber entscheide, wie das Betriebsklima am Arbeitsplatz ist, nicht ob die Vorgesetzten Fortbildungsseminare oder Coachings besuchen. Auch unternehmensinterne Kampagnen seien selten zielführend, weil sie oft noch mehr Arbeit bedeuteten und selten bis zu den unteren Ebenen durchdringen. Aus Müllers Sicht ist der entscheidende Punkt die Auswahl.

"In den Kompetenzprofilen finden sich Dinge, die man eigentlich nicht lernen kann. Das sind Charaktereigenschaften", sagt er. Wer nicht authentisch ist, kann es demnach auch nicht werden. Müller hält den Begriff für kein geeignetes Auswahlkriterium. Vorgesetzte sollten seiner Ansicht nach "Vorbild, kommunikativ und fachlich kompetent, ehrlich, glaubwürdig" sein.

Osterloh legt die Messlatte höher. Der moderne Manager müsse zusätzlich zu diesen Eigenschaften auch das physische und psychische Wohlergehen seiner Mitarbeiter berücksichtigen. Er beruft sich dabei auf eine Umfrage, die der VW-Betriebsrat unter 24 000 Beschäftigten veranstaltete. Sie wurden danach befragt, wie sie sich das Büro der Zukunft vorstellen. Immerhin die Hälfte wünschte sich mehr Flexibilität bezüglich des Arbeitsorts und der Arbeitszeit. Der Betriebsrat wolle diesem Wunsch nachkommen, sagt Osterloh.

"Gleichzeitig brauchen wir verbindliche Regelungen, wie die für Smartphones, die einem Arbeiten ohne Ende den Riegel vorschieben." Der Betriebsratsvorsitzende hat klare Vorstellungen davon, wie das gehen soll. "Wir müssen gemeinsam mit dem Management Modelle finden, wie Mitarbeiterführung unter flexibleren Rahmenbedingungen gelebt werden kann", sagt er. "Funktionieren kann so etwas nur, wenn Manager auch Verantwortung für die Gesundheit und das Wohlergehen der Belegschaft übernehmen." Authentisch sein klingt im Vergleich dazu fast einfach.

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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