Firmenleitbild:Sinn gibt's gratis

Lesezeit: 3 min

Die Drogeriemarktkette DM ist eines von etwa 600 Unternehmen in Deutschland, die sich in ihrem Firmenleitbild auf die anthroposophische Weltanschauung beziehen. (Foto: Andy Ridder/Visum)

Sonderbare Rituale, sozial verträgliche Gehälter, ein angenehmes Betriebsklima und nachhaltige Produkte: Die hundert Jahre alten Ideen des Anthroposophen Rudolf Steiner prägen noch heute viele Unternehmen.

Von Sigrid Rautenberg

Für Außenstehende mag es seltsam anmuten, was sich jeden Morgen bei Sonett abspielt, einem kleinen Hersteller ökologischer Reinigungsmittel in Deggenhausen im Bodensee-Hinterland. Die beiden Geschäftsführer machen ihren Rundgang durch die Firma und begrüßen jeden der 54 Mitarbeiter per Handschlag. Wenn ein Geburtstag ansteht, versammelt sich die Belegschaft und stimmt ein mehrstimmiges Lied an. Und immer dienstags gibt's ein Gedicht: Dann kommt ein Künstler zu Besuch, er hat einen Gong dabei und trägt Verse vor. Gearbeitet wird bei Sonett auch, wegen der großen Nachfrage seit Kurzem sogar in Nachtschicht. Doch an seinen Ritualen hält das anthroposophische Unternehmen fest, so gut es geht.

Etwa 600 anthroposophisch orientierte Wirtschaftsunternehmen gibt es in Deutschland, dazu kommen zahlreiche soziale Einrichtungen wie Altenheime oder Kliniken. Viele wurden von Menschen gegründet, die sich für die Ideen des österreichischen Philosophen und Esoterikers Rudolf Steiner begeisterten. Firmen wie Alnatura, Wala, Demeter, Weleda oder die Drogeriemarktkette DM beziehen sich in ihren Werten auch heute noch auf seine Lehre, die Anthroposophie. Aber auch weniger bekannte wie der Stuttgarter Automobilzulieferer Mahle oder die Software AG in Darmstadt haben anthroposophische Wurzeln.

Oft wissen das nicht einmal die eigenen Mitarbeiter. Und mitunter ist davon auch nicht viel mehr übrig als Bioessen in der Kantine. Allen Firmen ist gemeinsam, dass sie mit ihren Produkten oder Dienstleistungen einen positiven Beitrag für Gesellschaft und Natur leisten wollen. Sie produzieren biologische Nahrungsmittel, umweltverträgliches Waschpulver oder investieren, wie etwa die GLS Bank, Kundengelder in nachhaltige Projekte. "Sinnvoll für Mensch und Erde", lautet der Leitspruch von Alnatura. Soweit die Theorie.

"Viele Mitarbeiter fühlen sich angezogen von dem wahrgenommenen Sinnbezug der Arbeit, dem ganzheitlichen Ansatz und der Art des Umgangs untereinander", sagt Susanne Blazejewski. Die BWL-Professorin mit Schwerpunkt Organisation und Personal an der Alanus-Hochschule, einer staatlichen anerkannten Hochschule mit anthroposophischem Ansatz, bezeichnet sich selbst als "Sympathisantin".

Viktoria Schwab, eine ihrer Studentinnen, absolviert die Praxisphasen ihres dualen Studiums bei DM. Sie ist erstaunt, wie "wahnsinnig wohl" sich alle dort fühlen. Das liege an dem großen Gestaltungsspielraum, der den Mitarbeitern eingeräumt werde, meint sie: Jede Filiale macht ihre eigenen Kostenpläne, verantwortet selbst den Einkauf. DM-Gründer Götz Werner ist einer der bekanntesten Anthroposophen in Deutschland. Auch in der Öffentlichkeit spricht er gerne von seinen Überzeugungen: "Der Mensch will in seiner Arbeit einen Sinn sehen", sagt Werner.

Anthroposophen legen Wert darauf, keiner Glaubensgemeinschaft anzuhängen, sondern sie teilen eine Lebenshaltung, die sich am ganzen Menschen orientiert - und daher auch den Führungsstil und das Miteinander prägt. Eine zentrale Rolle spielt die persönliche Weiterentwicklung und -bildung. Und zwar unabhängig von der Funktion und einem nachweisbaren Nutzen für das Unternehmen, denn "Arbeitszeit ist Lebenszeit", wie Werner sagt.

Das ist auch der Grund, weshalb in anthroposophisch orientierten Unternehmen oft Kunst zum Einsatz kommt. Bei Sonett ist es unter anderem das Dienstags-Gedicht. Die Geschäftsführer Beate Oberdorfer und Gerhard Heid sind davon überzeugt, dass die Mitarbeiter das lieben. Kunstwerke schmücken die Büros und sogar die Produktion. Es gibt Workshops für Improvisation, Eurythmie und Singen, aber auch einen Fußballclub.

Anders ist auch der Umgang mit Kapital. Überschüsse gehen häufig in eine Unternehmensstiftung, die Spreizung zwischen niedrigstem und höchstem Einkommen ist vergleichsweise gering. Bei der GLS Bank etwa verdient der Vorstand 250 000 Euro im Jahr und damit etwa das Siebenfache des kleinsten Einkommens, Boni werden nicht ausgeschüttet. Generell ist das Einkommensniveau in anthroposophischen Unternehmen niedriger, entsprechend schwer tun sich manche bei der Mitarbeiter-Rekrutierung.

Die meisten Bewerber entscheiden sich bewusst für diese Art der Unternehmenskultur, sind aber keineswegs selbst Anthroposophen. Andrea Kurz, die Personalleiterin der Weleda Gruppe, sagt: "Wenn wir jemanden mit diesem Hintergrund finden, sagen wir nicht automatisch, dass dies der bessere Kandidat für die Funktion sein muss. Wir erwarten nur, dass jemand Offenheit mitbringt und bereit ist, sich damit auseinanderzusetzen."

Professorin Blazejewski sieht das pragmatisch: "Es ist einfach eine Frage von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Nicht immer wird es gelingen, einen Controller zu finden, der noch dazu einen anthroposophischen Hintergrund hat." Dazu kommt, dass viele Menschen grundsätzlich nicht bei anthroposophisch orientierten Arbeitgebern anheuern würden, weil sie die dahinter stehende Ideologie für verschroben und esoterisch halten. Doch viele der Unternehmen haben eine treue Belegschaft, oft ist die Fluktuation sehr gering. "Aber wir leben nicht auf der Insel der Seligen", sagt GLS-Sprecher Christof Lützel, der selbst schon seit 16 Jahren dabei ist, "es muss deutlich überdurchschnittlich gearbeitet werden." Wer sich stark mit seiner Arbeit identifiziert, überfordert sich eher. Insider erzählen, dass Burn-outs bei der GLS zunehmen, auch wenn viel dagegen unternommen werde. Ein Mitarbeiter, der nicht mit Namen genannt werden will und ebenfalls stark eingespannt ist, findet den Umgang mit Kunden und die werteorientierten Projekte nach wie vor toll. Doch ansonsten sei die Bank ein Unternehmen wie jedes andere. Und manches - wie etwa die Einbindung der Mitarbeiter - sei bei seinem vorherigen Arbeitgeber sogar besser gewesen.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: