Debatte um "Null-Euro-Jobber":Überall Verlierer

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Schüler packen an Supermarktkassen Einkaufstüten - und bekommen nichts als das Trinkgeld. Ausbeutung oder erfolgreiches Geschäftsmodell? Der Streit tobt.

Maria Holzmüller

Es war ein einziges Wort, das eine Welle der Empörung lostrat: "Null-Euro-Jobber". Dass es so etwas wie Ein-Euro-Jobs gab, daran hatte man sich in Deutschland beinahe schon gewöhnt, aber dass es noch tiefer ging - das erschien vielen dann doch zu dreist. Eine Welle der Entrüstung brach los - und sie traf Martin Lettenmeier.

Manch einer freut sich über Hilfe beim Einpacken an der Supermarktkasse. Diejenigen, die Tüten füllen, sind auf das Trinkgeld angewiesen. (Foto: Foto: AP)

Der Theologe wurde innerhalb eines Tages durch einen Artikel im Wirtschaftsmagazin Impulse zum abscheulichsten Kapitalisten am Horizont stilisiert - und steht nun kurz davor, seine berufliche Existenz zu verlieren.

Die Geschichte dahinter ist schnell erzählt - und doch komplizierter als es scheint. Martin Lettenmeier ist Geschäftsführer des Dienstleistungsunternehmens "Friendly Service". Er vermittelt seit vier Jahren jugendliche Einpackhilfen, wie man sie vor allem aus den USA kennt, an Supermärkte in ganz Deutschland. Lettenmeier bekommt von den Märkten Geld für die Vermittlungsleistung, drei Euro je Einpacker pro Stunde - die Einpackhilfen erhalten das Trinkgeld der Supermarktkunden. Sonst nichts. So weit, so empörend. Der Begriff Null-Euro-Jobber war geboren.

Suche nach der Wahrheit

Im Internet machte die Meldung ihre Runde, zog den geballten Zorn der Kommentatoren auf sich. Von "Perfidität" und "menschenunwürdiger Ausbeutung" ist da die Rede. Mindestens ebenso zornig sind allerdings die Kommentare aktueller und ehemaliger Mitarbeiter von "Friendly Service": Sie sprechen von einer "Verfremdung der Tatsachen" und vom "besten Job überhaupt".

Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Martin Lettenmeier betont, dass von Null-Euro-Jobbern überhaupt keine Rede sein kann: Die jugendlichen Einpackhilfen, alle zwischen 16 und 24 Jahre alt, im Vertrag mit "Friendly Service" als Selbständige deklariert, verdienten im Durchschnitt allein durch Trinkgeld zwischen sieben und 15 Euro in der Stunde - "mehr als sie sonst irgendwo bekommen würden."

Christoph Schmitz, Pressesprecher der Gewerkschaft Verdi, hält das für Unsinn: "Wenn die Schüler einen festen Mindestlohn bekämen, könnten sie besser kalkulieren und erhielten das Trinkgeld noch zusätzlich."

"Wenn ich ein Kapitalistenschwein wäre ..."

Martin Lettenmeier bestreitet das. Wenn alle Servicekräfte ein Grundgehalt bekämen, ließe die Motivation, engagiert zu arbeiten automatisch nach. "Wir haben das bereits probiert: Alle Mitarbeiter auf 400 Euro Basis. Da ist keiner mehr aktiv geworden, um die Kunden wirklich zufriedenzustellen."

Und genau darum geht es Martin Lettenmeier: Er möchte die berufliche Selbständigkeit in Deutschland fördern und den jungen Leuten vermitteln, "dass jeder selbst für sein Glück verantwortlich ist". Kapitalismus als Erziehungsauftrag. Eigeninitiative ist gefragt. Wer auf die Leute zugeht, bekommt mehr Trinkgeld. Wer mehr Trinkgeld bekommt, darf sich die besten Schichten aussuchen.

Aber: "Wenn ich wirklich so ein Kapitalistenschwein wäre, wie alle sagen, dann würde ich doch einfach fünf Leute an fünf Kassen stellen, obwohl ich weiß, dass dann niemand etwas verdient. Aber ich stelle immer nur so viele Servicekräfte ab, dass es sich für alle lohnt. Jeder soll mit einem Minimallohn von sechs Euro nach Hause gehen", sagt Lettenmeier, der früher in der PR-Branche tätig war.

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Bei aller Betonung der Selbständigkeit: ihre Einnahmen müssen die jungen Einpackhilfen am Abend jedes Arbeitstages offenlegen. "Um sie vor sich selbst zu schützen", wie Lettenmeier sagt. Schließlich dürfe niemand so viel verdienen, dass er dadurch sozialversicherungspflichtig würde. In diesem Punkt sei das rechtliche Betriebsgeheimnis jedes Einzelnen "in gegenseitigem Einvernehmen" aufgehoben.

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Offene Rangliste im Internet

Die Rangliste der Trinkgelder ist allen Mitarbeitern im Internet zugänglich. "Jugendliche wollen Wettbewerb", sagt Lettenmeier. Jeder sieht, wo er steht. Wer viel Trinkgeld bekommt, wird bei der Schichtvergabe für den kommenden Monat bevorzugt. Diejenigen, die schlechter abschneiden, werden zusätzlich bestraft, sie müssen die Schichten übernehmen, die übrig bleiben.

Ein Unding, wie Verdi-Vertreter Schultz findet: "Gleiche Arbeit muss mit gleichem Lohn bezahlt werden. Bei "Friendly Service" wird der Verdienst zur Glücksache."

Über solche Kritik schüttelt Geschäftsführer Lettenmeier resigniert den Kopf. "Die Leute verstehen mein System einfach nicht. Die Schüler arbeiten selbständig, sie sind nicht meine Angestellten. Wer besser arbeitet, verdient auch mehr." Rechtlich sei das alles abgesichert. Lettenmeiers Leistungsprinzip ist rigoros: Wer einmal zu spät kommt, rückt in der Rangliste automatisch nach unten, wer dem Dienst unentschuldigt fernbleibt, wird gefeuert. Im Gegenzug bietet der Chef aber auch ein kostenloses Coaching für diejenigen an, die sich verbessern wollen. Freundlichkeit und Offenheit lassen sich trainieren - im Zweifelsfall durch die Aussicht auf mehr Geld.

Keine Zweiklassengesellschaft unter den Kunden

Dass auf Grund der Trinkgeldregelung eine Zweiklassengesellschaft unter den Kunden entstehe - diejenigen, die zahlen und freundlich behandelt werden, und diejenigen, die es sich nicht leisten können Trinkgeld zu geben und deshalb von den Einpackhilfen ignoriert werden - bestreitet Melanie Baumgartner. Die Schülerin ist seit zwei Jahren Servicekraft im Edeka-Markt Unterföhring bei München. "Wir sind zu allen freundlich, wir packen auch für die Leute ein, die nichts geben." Dazu verpflichtet sie auch ihr Vertrag mit "Friendly Service".

Verdi-Vertreter Schultz spricht dennoch von Nötigung. Die Kunden wüssten, dass die Einpackhilfe lediglich Trinkgeld bekämen. Nichts zu geben, provoziere ein schlechtes Gewissen. Melanie Baumgartner widerspricht: "Wir fragen jeden Kunden, ob er möchte, dass wir seine Einkäufe einpacken. Und es gibt immer Kassen, an denen niemand von uns steht. Die Kunden haben also die Wahl."

Der Ruf ist ramponiert

Wie viele der derzeit 400 Einpackhilfen, beteuert sie, wie viel Spaß ihr der Job mache und wie gut sie dabei verdiene. Trotz aller Verteidigungstiraden der jugendlichen Einpacker - der Ruf von "Friendly Service" ist erst einmal ramponiert, die Supermärkte wurden infolge der medialen Aufmerksamkeit unsicher. Aufgrund des Artikels von Impulse kündigten die Hamburger Drogeriemarktkette Budnikowsky sowie zahlreiche Edeka-Filialen Lettenmeiers Dienste.

Einzig Edeka-Südbayern zaudert noch - die Supermarktkette will den Vertrag mit "Friendly Service" in der kommenden Woche prüfen. "Egal wie das ausgeht, 'Friendly Service' wird es in dieser Form wohl nicht mehr lange geben", sagt Lettenmeier. Die Schuld gibt er einem Wort: "Das Schlagwort Null-Euro-Jobber. Mich hat es erschlagen."

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