Berufspraxis:Erste Hilfe

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Echte Mandanten bekommen Jurastudenten meist erst nach dem ersten Staatsexamen zu Gesicht. In Law Clinics beraten sie Hilfsbedürftige schon vorher.

Von Anne-Ev Ustorf

Die türkischen Eheleute waren entsetzt. Mit guten Arbeitsverträgen waren sie nach Deutschland gelockt worden und hatten sich auf Hamburg gefreut. Sogar geheiratet hatten sie noch, um mit dem Brautgeld die ersten Mieten bezahlen zu können. Dass sie kein Deutsch sprachen, machte ihnen keine Sorgen, sie wollten es schnell lernen. Doch in Hamburg setzte ihr neuer Chef sie unter Druck und forderte sie auf, einen geänderten Arbeitsvertrag zu unterschreiben - auf Deutsch. Sie fügten sich und stellten bald fest, dass der Vertrag eine Unverschämtheit war. Sie beschwerten sich und flogen raus.

"Wir konnten erreichen, dass die Abänderung unwirksam war und die beiden eine anständige Abfindung bekamen", sagt Flavia Lang, Absolventin der privaten Jura-Hochschule Bucerius Law School in Hamburg. "Das war eine tolle Erfahrung. Im Jurastudium lernt man ja vor allem, das Recht anzuwenden, und fragt sich selten, ob es auch um Gerechtigkeit geht. Hier war klar: Das Recht ist für alle da."

Ein Jurastudium gilt nicht gerade als lebensnah. "Trocken" oder "theoretisch" sind noch die freundlicheren Adjektive, mit denen Studenten ihr Fach beschreiben. Seit einigen Jahren ändert sich das. An vielen deutschen Universitäten - beispielsweise in Hamburg, Berlin, Köln, Gießen und München - sind sogenannte "Law Clinics" entstanden, kostenfreie Notfallambulanzen für Menschen, die wegen ihrer finanziellen und persönlichen Situation nur eingeschränkten Zugang zu qualifizierter juristischer Beratung haben. Jurastudenten bieten dort erste Hilfe in Rechtsfragen, supervidiert von Professoren oder Rechtsanwälten. Eine tolle Erfahrung für angehende Juristen, die echte Mandanten sonst erst nach dem Ersten Staatsexamen zu Gesicht bekommen.

Auch fachlich sind die Law Clinics eine Herausforderung. Denn in den Beratungen geht es um echte Fälle in Rechtsbereichen, die im Jurastudium eher unterrepräsentiert sind, wie etwa Aufenthaltsrecht oder Sozialrecht. An der Bucerius Law School in Hamburg ist die Law Clinic gar ein erfolgreiches Kooperationsprojekt mit der Diakonie Hamburg.

Echte Mandanten bekommen Jurastudenten sonst erst nach dem Examen zu Gesicht

Die Politikwissenschaftlerin Anna Barrera Vivero koordiniert die Law Clinic mit einer halben Stelle und findet, dass es gerade einer privaten Hochschule wie der Bucerius Law School gut zu Gesicht steht, sich sozial zu engagieren. "Viele Studierende fühlen sich sehr privilegiert, hier zu studieren", sagt Barrera. "Sie wissen, dass sie gute Berufsaussichten haben. In der Law Clinic können sie etwas zurückgeben und mal über den Tellerrand schauen. Denn wir begegnen hier Menschen mit wirklich schweren Lebensgeschichten."

Seit Oktober 2012 bietet die Law Clinic drei bis sechs Beratungen pro Woche, dabei arbeitet ein Anwalt stets im Team mit zwei Studierenden. Oft werden die Beratungsgespräche in anderen Sprachen geführt - etwa Englisch, Französisch, Spanisch, Türkisch, Polnisch oder Arabisch - und fast immer findet sich dafür in der multikulturellen Studentenschaft ein kompetenter Dolmetscher.

Bei jedem zweiten Fall reicht schon eine Erstberatung, in den übrigen Fällen übernimmt der Anwalt das Mandat und zieht die Studierenden als Legal Adviser hinzu. Die recherchieren dann für ihn, entwerfen in seinem Auftrag Schriftstücke, begleiten die Ratsuchenden zu Behörden und klären Rückfragen mit den Mandanten. Bisweilen ist das nicht leicht, gerade, wenn die Mandanten traumatisiert sind. "Belastend ist es, wenn man nicht helfen kann", sagt Lang, "wenn zum Beispiel ein Flüchtling vor einem sitzt, der hoffnungsfroh ist, wir aber aufgrund der Gesetzeslage schnell sehen können, dass es zur Abschiebung kommen wird. Damit umzugehen, ist schwer."

Lang hat schon eine Menge Erfahrung in der Law Clinic sammeln können, wurde darüber hinaus auch geschult: Alle Legal Adviser nehmen zu Beginn ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit an einem zweitägigen Seminar teil. Auf dem Programm stehen dabei Gesprächsführung, Mandantenbetreuung, Konfliktmanagement und interkultureller Kompetenz. Nicht nur bei den Ratsuchenden, auch bei den Studenten ist deshalb der Andrang groß.

Anna Barrera hofft, dass sich bald mehr Förderer finden. Die Hochschule stellt lediglich den Raum und ihre halbe Koordinierungsstelle, alle anderen Kosten müssen durch Drittmittel eingeworben werden. "Es ist nicht einfach", sagt sie, "aber es lohnt sich. Denn es kommen immer mehr Menschen nach Deutschland, die Schutz brauchen vor Krieg und Ausbeutung. Dafür benötigen wir geschulte Anwälte." Wie die 29-jährige Flavia Lang, die sich mittlerweile gut vorstellen kann, nach dem Zweiten Staatsexamen auch weiterhin Flüchtlinge zu beraten.

© SZ vom 16.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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