Kranken-Tourismus in China:Letzte Hoffnung Dr. Huang

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Ein lukrativer Markt - chinesische Krankenhäuser versprechen Schwerkranken aus dem Westen Heilung. Viele Verfahren sind allerdings medizinisch kaum erforscht und moralisch fragwürdig.

Janis Vougioukas

Der Mann aus England kann nicht mehr sprechen. Er sitzt den Tag über meist neben der Schwingtür am Eingang, in der Raucherecke. Er genießt es, sein Krankenzimmer verlassen und das Leben auf dem Flur beobachten zu können. Seit die Krankheit ihr fortgeschrittenes Stadium erreicht hat, kann er den Mund kaum noch bewegen. Die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), an der er leidet, greift das Gehirn und das Nervensystem an. Eine Heilung gibt es nicht, hatten die Ärzte gesagt, zu Hause in England.

Nach einem Krankenhausaufenthalt in China berichten zahlreiche Patienten von großen Heilungserfolgen. Kritiker sprechen von häufiger Scharlatanerie. (Foto: Foto: ddp)

Drei Wochen seien sie bereits hier, sagt seine Ehefrau. Und der Mann nickt, streckt den Daumen der rechten Hand empor, lacht mit allen Gesichtszügen. "Er meint, dass es ihm seitdem viel besser geht", sagt die Frau.

Auch sie wirkt erleichtert, seit der Operation haben beide neue Hoffnung gewonnen. Zu Hause in Europa konnten die Ärzte ihrem Mann nicht einmal die Schmerzen nehmen, sie waren machtlos und mussten zusehen, wie sein Körper jede Woche weiter verfiel. Dann las ihre Tochter im Internet von Dr. Huang in China. "Es war unser großes Glück", sagt die Frau, und in ihrer Stimme klingt Dankbarkeit.

"Großes Glück"

Das Westberg-Krankenhaus liegt außerhalb von Peking am Rand eines militärischen Sperrgebietes. Kurz nach der Revolution gründeten die Kommunisten hier ein Arbeiter-Sanatorium. Obwohl Fassade und Einrichtung seitdem offenbar nicht mehr renoviert worden sind, hat das Westberg-Krankenhaus in den vergangenen Jahren große internationale Aufmerksamkeit erregt.

Hinter der Schwingtür im dritten Stock liegt das Institut für Neuroregeneration, gegründet von dem Pekinger Neurochirurgen Huang Hongyun. Huang und seine Mitarbeiter haben sich weit in medizinisches Neuland vorgewagt und behandeln Querschnittsgelähmte und Patienten mit ALS oder Multipler Sklerose - Menschen, denen andere Ärzte keine Hoffnung mehr geben können.

An den Wänden hängen gerahmte Fotocollagen. Sie zeigen magere und erkennbar schwache Menschen in Rollstühlen und Krankenbetten, die mit angestrengt wirkendem Lächeln in die Kamera blicken. Manche tragen große Pflaster auf dem Kopf. Mit Buntstift hat jemand die Heimatländer der Patienten unter die Fotos geschrieben: Dänemark, Deutschland, Spanien, Schweiz, Israel, USA.

Zellen von Föten

"Ich habe in den letzten Jahren über tausendmal operiert, mehr als die Hälfte meiner Patienten kommen aus dem Westen", sagt Huang. Er berechnet 20.000 Dollar für eine Operation, die in den meisten Ländern der Welt nicht zugelassen ist. Huang spritzt seinen Patienten eine Million sogenannte olfaktorische Hüllzellen, die geschädigte Nervenstränge wieder herstellen sollen. Die Zellen stammen von abgetriebenen Föten.

"Wir können mit der Technologie niemanden heilen", sagt Huang. Doch viele seiner Patienten berichten von großen Verbesserungen. Schmerzen, die verschwanden. Lange gelähmte Gelenke, die wieder bewegt werden können. "Wir wissen noch nicht genau warum. Doch bereits wenige Tage nach der Operation kehren einige Körperfunktionen zurück", sagt Huang.

Viele ausländische Wissenschaftler werfen Huang Scharlatanerie und unsaubere Arbeitsmethoden vor. Und tatsächlich ist vieles unklar und unbewiesen. Doch schon eine vage Hoffnung kann den Menschen reichen, denen die Ärzte sonst nur noch die Schmerzen nehmen können.

Zehntausend allein in Peking

Immer mehr chinesische Krankenhäuser werben im Internet um internationale Kundschaft und versprechen Heilungsaussichten mit teilweise kaum erforschten Verfahren. Besonders die modernen, spezialisierten Institute bereiten sich auf einen regelrechten Ansturm aus dem Ausland vor, stellen Übersetzer ein und renovieren Einzelzimmer für die verwöhnten Kunden aus dem Ausland.

Der Gesundheits- und Operationstourismus ist einer der lukrativsten Wachstumsmärkte in der chinesischen Medizin. 10.000 Ausländer lassen sich nach Angaben der staatlichen Aufsichtsbehörde für Traditionelle Chinesische Medizin jedes Jahr allein in Peking behandeln.

Nach Einschätzung amerikanischer Wissenschaftler bieten derzeit rund hundert chinesische Institute Stammzellenbehandlungen an, oft in Kombination mit traditionellen Behandlungsmethoden. Eine Firma im südchinesischen Shenzhen produziert das Krebsmedikament Gendicine, das vor vier Jahren zum ersten kommerziell erhältlichen Gentechnik-Medikament wurde. Gendicine kann man nur in China kaufen. Eine zweimonatige Behandlung kostet 20.000 Dollar. Wohl keine ausländische Krankenversicherung würde eine solche Behandlung finanzieren.

Errungenschaften des Sozialismus

Einige Tage später in Schanghai. Der Bus ist gerade losgefahren. Huang Min, die Reiseleiterin, steht vorne beim Fahrer und hält ein Mikrofon in der Hand. Sie hat die Besucher begrüßt. Sie spricht über chinesische Kultur, preist die Errungenschaften des Sozialismus. Die Menschen vor ihr schauen stumm aus dem Fenster. Sie sind müde.

Um 7.45 Uhr ist die Maschine der China Eastern Airlines auf dem Schanghaier Flughafen Pudong gelandet, ein Nachtflug - das strengt an. Die meisten Mitglieder der Reisegruppe sind bereits älter. Nur vier waren vorher schon einmal in China, niemand scheint genau zu wissen, was ihn auf der Reise erwartet.

Zwei Wochen liegen vor ihnen: kein normaler Urlaub, sondern eine Entdeckungsreise durch die Welt der chinesischen Philosophie und Heilkunde. "Chinesische Medizin hat eine lange Tradition. Langsam entdeckt das auch der Westen", sagt Michaela Kanz, Qi-Gong-Lehrerin aus Verden in Niedersachsen, die die Gruppenreise von Deutschland aus organisiert hat. Kanz gibt Kurse in chinesischer Meditation an der Volkshochschule in Verden. Einmal im Jahr reist sie mit ihren Schülern nach China, um die chinesische Medizin zu studieren.

Nicht alle Gesundheitstouristen sind tatsächlich auch Patienten. Doch im Westen wächst das Interesse an Alternativen zur herkömmlichen Schulmedizin. Der Trend begann vor einigen Jahren in Hongkong und Taiwan. Von da war der Besuch in China nur ein kurzer Sprung über die Grenze, und Sprachprobleme gab es nicht.

"Wilde Schwäne" als Anfang

Dann folgten Koreaner und Japaner und suchten nach heilsamen Massagen und Kräutertinkturen. Seit einigen Jahren bieten auch Touristikagenturen aus dem Westen Entdeckungsreisen durch die fremde Welt aus Akupunkturpunkten, Energiemeridianen und die Kräfte des Yin und des Yang.

"Alles begann mit Jung Changs Buch 'Wilde Schwäne'", sagt Elisabeth Idler aus Berlin, die im Bus rechts am Fenster sitzt. Beim Lesen der Familienbiografie sei ihr Interesse an China geweckt worden. Im Urlaub vor einigen Jahren hatte sie sich für einen Malkurs angemeldet. Doch der Unterricht fiel aus. Spontan entschied sich Idler, stattdessen ein Tai-Chi-Seminar zu besuchen.

Die 57-Jährige arbeitet in Deutschland als Physiotherapeutin, spezialisiert auf die Behandlung von Kindern und Jugendlichen. "Vielleicht werde ich in China Erfahrungen sammeln, die ich bei meiner Arbeit einsetzen kann", sagt die Frau. Wie sie kommen viele Reisende aus reiner Neugier.

Eine Reihe weiter hinten sitzt Angelika Krause. Vor zehn Jahren diagnostizierten die Ärzte bei ihr ein Krebsgeschwür. Seitdem interessiert sich die Berufsschullehrerin für Alternativen zur Schulmedizin. "Ein westlicher Arzt trifft eine Diagnose und schneidet dann etwas weg. Chinesische Medizin ist ganzheitlich", sagt Krause.

Organe von Gefängnisinsassen

In den kommenden zwölf Tagen wird die Reisegruppe Tempel und Ausgrabungsstätten im ganzen Land besichtigen. Informationsveranstaltungen in Krankenhäusern stehen auf dem Programm, ebenso traditionelle Massagen und gemeinsame Qi-Gong-Gymnastik noch vor dem Frühstück.

Die Krankenhäuser interessiert vor allem die Behandlung chronisch kranker Patienten. Und je größer die Not, desto skrupelloser werden die Geschäftemacher. Im Internet werben Vermittlungsagenturen für schnelle Transplantationen mit "Organwartezeiten von ein bis zwei Wochen".

"Die Organe stammen von hingerichteten Gefängnisinsassen", heißt es unverhüllt bei einer japanischen Firma mit Sitz in Peking. Offizielle Zahlen gibt es nicht. Doch nach Berichten chinesischer Medien kamen allein in den vergangenen drei Jahren über 3.000 Koreaner nach China, um eine Spenderleber zu empfangen. 60.000 Transplantationen wurden zwischen 2000 und 2005 in China insgesamt vorgenommen - dreimal so viel wie in den sechs Jahren davor.

Spaßiger Zahnarztbesuch

China überzeugt viele dabei auch mit niedrigen Kosten. Hochqualifizierte Experten und Spezialmedikamente kosten hier oft viel weniger, als in Europa oder den USA bezahlt werden müsste. Ein kanadischer Reiseveranstalter hat das als Marktlücke entdeckt und bietet seit einigen Wochen China-Rundreisen mit anschließender Zahnbehandlung an.

Die besten chinesischen Zahnärzte berechnen nur einen Bruchteil westlicher Behandlungskosten. "Nie war ein Zahnarztbesuch aufregender, billiger und spaßiger", heißt es auf der Webseite incidentaltourist.com.

Die Chinesen hingegen verlieren zunehmend das Vertrauen in ihr Gesundheitssystem - und wer es sich leisten kann, begibt sich für aufwändige Behandlungen lieber ins Ausland.

Chinesen gehen lieber ins Ausland

Im vergangenen April kauften Mitarbeiter des englischen Pharmakonzerns Astra Zeneca bei 500 Apotheken im ganzen Land Packungen des konzerneigenen Krebsmedikaments Losec. Die Stichproben wurden im Labor analysiert. Das Ergebnis war schockierend: Jede zehnte Losec-Packung war eine Fälschung. Manche Tabletten bestanden lediglich aus Stärke.

Gefälschte Medikamente sind noch immer eines der größten Probleme des chinesischen Gesundheitssystems. Nach Berichten chinesischer Medien starben allein im Jahr 2001 etwa 192.000 Chinesen an gefälschten Arzneimitteln. Ein Mitarbeiter der Fernsehsendung "News 007" des Provinzsenders Zhejiang TV stellte im vergangenen März zehn Krankenhäuser in der Provinzstadt Hangzhou auf die Probe.

Der Reporter gab sich als Patient aus und bat um die Analyse einer Urinprobe. Doch in den Behältern, die er den Ärzten überreichte, befand sich lediglich grüner Tee. Die Hälfte der Krankenhäuser präsentierten lange Krankheitsbefunde und empfahlen kostspielige Behandlungen. Dass die Urinprobe in Wirklichkeit nur Tee war, hatten sie gar nicht gemerkt.

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