Folgen der Finanzkrise:Die Angst vor der Angst

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Zuerst traf die Finanzkrise Amerika und viele dachten: "Denen geschieht es recht." Inzwischen rufen auch in Deutschland dieselben Leute nach dem Staat, die ihn eigentlich für zu blöd halten, eine Bank zu führen.

Kurt Kister

Der beste deutsche Roman im Jahre 2008 war Uwe Tellkamps "Der Turm". Es ist eine große, großartige Geschichte über die Spätzeit der DDR, die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in denen zunächst nichts anders zu werden schien, obwohl doch ein unterirdischer Strom aus Überdruss, Angst, Sehnsucht und Freiheitsstreben die vermeintlich stabilen Fundamente des SED-Staates nachhaltig unterspülte. Tellkamp erzählt von vielen und von vielem aus dieser Zeit, unter anderem auch von der Leipziger Buchmesse des Jahres 1983, dem "Jahr der Apokalypse", wie er es nennt. "Fast alle ausgestellten Bücher beschäftigten sich mit Weltuntergängen", schreibt Tellkamp: Der Wald sei am Sterben, Raketen würden stationiert, der Krieg der Sterne sei angekündigt. Die Stimmung auf der Messe sei gedrückt gewesen; die Messeleute, egal ob aus Ost oder West, "Lektoren, Verleger, Autoren: alle waren finster entschlossen, unterzugehen."

Die Kurse brechen ein, der Kapitalismus scheint sich an sich selbst überfressen zu haben: elektronischer Nachrichtenticker am New Yorker Times Square. Die Krise, die auf dem amerikanischen Immobilienmarkt begann, breitet sich mit rasanter Geschwindigkeit rund um die Erde aus. (Foto: Foto: AFP)

Liest man das heute, stutzt man. Zum einen ist da die Erinnerung an den tiefen Ernst der Angst in Mutlangen, an Heinrich Böll vor dem Zaun, aber genauso auch an jene manchmal hysterischen Debatten, an Podiumsdiskussionen, bei denen der eine rief: "Reagan will den Atomkrieg!", und der andere: "Ihr werdet doch von Moskau bezahlt!" Weltuntergang war damals wirklich très chic, und wer dennoch sagte, nein, Angst habe er eigentlich nicht, der galt als naiv, politisch verbohrt oder wenigstens als gefühlskalt. Die Apokalypse fand dann doch nicht statt. Dass Deutschland heute bis auf zwei Dutzend fast vergessene Nuklearbomben auf einem Fliegerhorst in Rheinland-Pfalz tatsächlich atomwaffenfreie Zone geworden ist, hat mit Gorbatschow, aber auch mit Reagan und mehr noch mit jenen Bedrückungen, Gemütslagen und Gefühlen zu tun, um die Tellkamp seinen Roman spinnt.

Zum anderen war aber auch 2008 ein Jahr der Angst. Es gab zwar nicht die finstere Entschlossenheit, unterzugehen. Und doch war es viel mehr als nur eine jener Wellen, die zyklisch durchs Land und durch die Medien rauschen. Beim Rinderwahnsinn, beim Nacktscanner oder bei der Vogelgrippe fürchtete der normale Bürger weniger das Ding an sich, die Konkretion der Gefahr, sondern vielmehr die Angst vor dem Ding, jene konturlose Ungewissheit, was wohl passieren würde, wenn es so käme, wie es schlimmstenfalls kommen könnte. Der Mensch hat bei solchen Anlässen vielleicht keine Angst, aber er erschrickt zumindest, wenn er nur entschieden genug darauf hingewiesen wird, wenn er nur genug politische Aktion oder Aktionismus sieht, wenn er von Ministern hört, die zurücktreten müssen.

Die Bereitschaft, stets Alarm zu schlagen, was man in der Politik auch gern als Kampagnenfähigkeit bezeichnet, und mehr noch der Alarmismus als Geisteshaltung, gehören zur professionellen Ausstattung von Politikern, Ideenverkäufern und Meinungsmachern. Franklin Delano Roosevelt hat 1933, in einer Zeit der Lähmung, der Depression und der wirklichen Angst, den klugen Satz gesagt: "Das Einzige, wovor wir Angst haben müssen, ist die Angst selbst." 2008 war ein Jahr der Angst, weil um uns herum eben nicht nur die Fassaden bröckelten, sondern tragende Wände eingestürzt sind. Im ersten Halbjahr traf es Amerika, das so weit weg ist und von dem viele in Deutschland, zumal nach acht Jahren Bush-Regierung, mehr oder weniger klammheimlich denken: "Denen geschieht es nur recht."

Im Frühling konnte man es in Deutschland lesen und im Fernsehen anschauen, wie die Amerikaner ihre Häuser verloren, wie die ersten Banken krachten, wie die Aktienkurse ins Bodenlose fielen. Der Kapitalismus schien sich in seiner eigenen Heimstatt an sich selbst überfressen zu haben. Die Unterscheidung zwischen dem "Finanzsystem" und der "Realwirtschaft" tröpfelte durch bis an die Stammtische und in die Fahrgemeinschaften, wo die jeweils schnellsten Durchblicker, die Aufzugskomiker à la Mario Barth mit ironischem Lächeln erklärten, dass ja allein schon der Begriff "Realwirtschaft" Satire sei, Realsatire sozusagen.

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Die Kurse brechen ein, der Kapitalismus scheint sich an sich selbst überfressen zu haben: elektronischer Nachrichtenticker am New Yorker Times Square. Die Krise, die auf dem amerikanischen Immobilienmarkt begann, breitet sich mit rasanter Geschwindigkeit rund um die Erde aus. Nun ja. Jedenfalls dachte man im Frühling und noch im Sommer: Uns geht das nichts an, denn wir haben keine Derivate, und eine Landesbank ist ja nur so eine Bankenbank, die schon irgendwie zurechtkommen wird, weil da ja auch die Politiker drinsitzen. Als man dann noch hörte, dass "Deutschlands dümmste Bank" ( Bild-Zeitung), die staatliche Kreditanstalt für Wiederaufbau, einer zusammenbrechenden USBank ein paar hundert Millionen Euro nachgeworfen hatte, fühlten sich viele eher in ihren Vorurteilen gegen "den" Staat bestätigt, als dass sie um ihren Job fürchteten. Ein paar Monate später hat sich das grundsätzlich geändert.

Es geht nicht mehr nur um Häuser in Iowa und Kreditkarten in Mississippi, sondern um unverkäufliche Autos bei BMW, um Entlassungen bei der Post, um ausbleibende Aufträge bei Maschinenbauern und um unbezahlte Rechnungen bei Handwerkern. Die Rezession ist da, die einst ferne, fremde Krise ist angekommen. Sehr viele Betriebe wollen 2009 entweder keine Leute mehr einstellen oder sogar Mitarbeiter entlassen. Auch der Staat muss wieder mehr Schulden machen, was den normalen Bürger allerdings viel weniger bedrückt, als wenn es der Firma schlecht geht, bei der er arbeitet. Seit dem Spätsommer jedenfalls hat sich die Erkenntnis, dass "2009 ein Jahr schlechter Nachrichten wird" (Angela Merkel) zuerst leise angeschlichen. In den letzten beiden Monaten des Jahres 2008 war es dann klar, dass die kurze Zeit des Aufschwungs vorbei ist.

Ökonomische Sorgen überschatten Bundestagswahl

Das wird einerseits wohl wieder zu höherer Arbeitslosigkeit führen. Andererseits wird die Bundestagswahl im September nicht in einem Klima relativer Zufriedenheit stattfinden, sondern sie wird geprägt sein von ökonomischen Sorgen, Zukunftsängsten und wohl auch von sich noch verstärkender Politikverdrossenheit vieler Wähler. Auch in Deutschland scheint nun zu drohen, was in den USA schon Monate früher geschehen ist: Säulen des Wirtschaftslebens geraten ins Wanken oder stürzen um. Die Investment- Banken Lehman Brothers oder Goldman Sachs zum Beispiel waren geradezu Symbole des scheinbar immerwährenden amerikanischen Aufschwungs seit dem Ende der Präsidentschaft des alten Bush.

Sie wurden in diesem Jahr binnen Monaten hinweggefegt oder schwerst beschädigt. Das amerikanische Beispiel vor Augen fürchten viele Deutsche nun um die hiesigen Säulen: die Banken, die Autoindustrie, den Maschinenbau. Zwar hat man so ein Gefühl: "Aber BMW oder Mercedes kann doch nichts passieren . . ." Nein, kann es nicht? Und wenn doch? Was ist dann mit den Zehntausenden Arbeitern und Angestellten? Muss "die" Politik im schlimmsten Fall diesen Firmen beispringen mit jenen Milliarden, die sie versprochen hat, aber eigentlich nicht besitzt?

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Und wie ist ein Autokonzern zu retten, wenn die Leute kein Geld mehr haben und keine Kredite mehr bekommen, um Autos zu kaufen? Die Reihe solcher Fragen lässt sich endlos fortsetzen. Auch in ihnen manifestiert sich die Angst. Die Unsicherheit geht noch tiefer. Trifft es nun nach dem Sozialismus auch "den" Kapitalismus als Wirtschafts-, Staatsund Lebensform - auch wenn er gar keine Staats- und Lebensform ist? Diese Auffassung vertreten viele, in Deutschland zumal jene, welche die komplette Abwicklung der DDR als ungerecht und falsch empfunden haben oder noch empfinden.

Nun ist die aktuelle Krise sicher eine Krise des auf Pump und Aktienwetten basierenden Finanzsystems made in USA und darüber hinaus auch eine Krise des American way of life, zu dem in diesem Fall vieles gehört: das Leben vom Geld anderer, die auf Fonds und Aktien basierende Altersversorgung vieler Amerikaner, der rücksichtslose Wall-Street-Darwinismus, die Krankenversicherung nur für Jobinhaber und vieles mehr. Diese Finanzkrise ist eine tiefe Krise Amerikas, und weil mit der Supermacht durch die Globalisierung fast die gesamte Welt verbunden ist, ist es auch eine weltweite Wirtschaftskrise, die in Deutschland zur Rezession führt.

Aber, um auch dies festzustellen: Es ist trotz aller Ängste in Deutschland nicht mehr als eine Wirtschaftskrise. Weder ist die soziale Marktwirtschaft bedroht, noch ist - auch wenn sehr scharf gestritten wird über die soziale Gerechtigkeit - unser durchaus stabiles Gesellschaftssystem in Gefahr. Anders als im antagonistisch denkenden Amerika (und zum Teil auch in Großbritannien) beruht der deutsche Parteien- und Verbändestaat auf dem institutionalisierten Interessenausgleich in Parlamenten, Firmen und Großorganisationen. Es ist zwar nicht die Kompromiss-Kultur des niederländischen Poldermodells, aber dennoch ein mittlerweile ziemlich gut eingeübtes Mitsprechen und Mitentscheiden vieler, manchmal sogar zu vieler.

Ganz Deutschland eine große Koalition

Verhindert das gelegentlich Flexibilität, Erneuerung, Reaktionsvermögen? Ja, zweifelsohne. So gesehen ist ganz Deutschland eine große Koalition. Die aber federt gleichzeitig vieles ab, lässt aus Rissen zwischen den Schichten keine Gräben zwischen Klassen werden und bindet die übergroße Mehrzahl der Menschen ein. Die Amerikaner haben am Ende des Jahres 2008 sehr viel Anlass, über ihre Rolle in der Welt, ihr Wirtschaftssystem und über das Gewebe ihrer Gesellschaft intensiv und grundsätzlich nachzudenken. (Weil sie mit diesem Prozess bereits begonnen haben, heißt ihr nächster Präsident Barack Obama.) Auch die Europäer, und mit ihnen die Deutschen, müssen umdenken. In den meisten Ländern Europas aber ist der Turbokapitalismus schon jetzt deutlich mehr eingehegt als in den USA.

Und die Freiheit im Sinne einer marktradikalen, weitgehenden Freiheit vom Staat fordert selbst in der Minderheitspartei FDP nur noch eine Minderheit - wie auch übrigens die Staatskontrolle der sogenannten Schlüsselindustrien auch in der Minderheitspartei Die Linke nur eine Minderheit will. Der Staat hatte im Jahr der Angst und der Rezession erstaunliche Konjunktur. Dass dies bei einem Teil der Sozialdemokratie und ihrer missgünstigen Stiefschwester, der Linkspartei, so ist, verwundert wenig. Bemerkenswerter dagegen ist, dass auch die Marktwirtschaftler zu Staatsinterventionisten geworden sind - von Steinbrück über Merkel bis hin zum 2008 so schnell wechselnden bayerischen Personal. Die Bundesregierung warf hier 500 Milliarden für die

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Banken in den Ring: Dort legte sie eine Art Konjunkturprogramm auf, anderswo dachte sie über Bürgschaften für die Autobauer nach. Dies alles geschah unter der Kanzlerin Merkel, die mit jener eher marktradikal auftretenden CDU-Vorsitzenden Merkel desa Leipziger Parteitags 2003 oder des Bundestagswahlkampfs 2005 nichts mehr zu tun zu haben scheint. Die neue Liebe für den wirtschaftlich tätigen, eingreifenden Staat in durchaus weiten Teilen der Bevölkerung ist auch etwas sonderbar. Einerseits nämlich soll dieser Staat mehr oder weniger interventionistisch und vor allem ideenreich die Krise meistern. Verlangen jedenfalls viele Leute.

Bei den Banken solle er bestimmen oder zumindest mitbestimmen, wenn er sie schon retten muss. Andererseits aber ist es ja genau jener Staat, den dieselben Leute, die jetzt nach ihm rufen, eigentlich für zu blöd halten, um auch nur eine einzige Bank, zum Beispiel die KfW, zu führen. Und interessanterweise geht es gerade jenen Banken in Deutschland, die vom Staat (mit)kontrolliert worden sind, also den Landesbanken, besonders schlecht. (Außerdem: Gegen kaum einen Berufsstand, vielleicht abgesehen von den Managern, hat der Rest der Gesellschaft so viele garstige Vorurteile wie gegen Beamte und Politiker - beides Repräsentanten des Staates.)

Und es ist der nämliche Staat, von dem die eher Linken ohnehin glauben, dass er die Bürger mit Online-Durchsuchung, neuem BKA-Gesetz, ungerechter Hartz-IV-Bürokratie und anderen Bösartigkeiten mehr traktiert. Will man denn ausgerechnet diesem Staat auch noch die Banken, Kraftwerke und Autofabriken in den Rachen werfen? Man kann also entweder glauben, dass die Krise des Jahres 2008 eine Renaissance des Staates und seiner Rolle in Ökonomie und Gesellschaft begründen muss. Genauso gut aber lässt sich das Gegenteil vertreten: Die Krise des Jahres 2008 und ihre Vorgeschichte haben gerade bewiesen, wie wenig tauglich Staat und Staatskontrolle in der Wirtschaft sind. Die einen nennen solche Widersprüche wohl Dialektik, die anderen sagen: Anything goes.

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