Friedenspreis des Buchhandels für Lanier:Gewissen der digitalen Welt

Jaron Lanier

Microsoft-Forscher und Digital-Kassandra: Für Jaron Lanier ist das kein Widerspruch.

(Foto: vanz / CC-by-sa-2.0)

Jaron Lanier ist der Einzige, der versucht, die Strukturen hinter den freundlichen Fassaden von Google und Facebook aufzudecken. Ihn beunruhigt die Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen der Herrscher über die Netzwerke.

Von Jörg Häntzschel

Bisher ging der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels fast immer an Personen, die sich um Menschenrechte, Demokratie und Aussöhnung an den Brandherden der Welt verdient gemacht hatten. Jaron Lanier, der diesjährigen Preisträger, hat im Gegensatz dazu ein Menschheitsproblem benannt und umrissen, dessen sich viele noch gar nicht bewusst sind. Sein Thema sind die Konsequenzen, die der ungebremste Machtzuwachs der Internetkonzerne für die Freiheit und die Lebensbedingungen jedes Einzelnen haben könnte. Kritiker an der gegenwärtigen Entwicklung gibt es viele: Manche sind Kulturpessimisten, andere sorgen sich wegen der Überwachung durch Staat und Konzerne oder der amerikanischen Dominanz über das Netz. Lanier ist der Einzige, der versucht, die völlig neuen ökonomischen Strukturen hinter den freundlichen Fassaden der "Sirenenserver" aufzudecken.

Wenn Lanier bei Konferenzen auf der Bühne steht, spielt er die Rolle der Digital-Kassandra denkbar eindrücklich. Schon äußerlich hat der 54-Jährige wenig mit den Start-up-Millionären in spe zu tun, die bei Digitalfestivals auf Investorensuche sind. Er ist ein riesiger Mann mit Dreadlocks, die ihm bis über das T-Shirt hängen. Und statt der Powerpoint-Fernbedienung nimmt er bei seinen Auftritten als Erstes eine Khene, eine Esraj oder ein anderes obskures Instrument zur Hand - und entlockt ihm eine schüchterne Improvisation. Dass während dieser Einlagen niemand den Saal verlässt, liegt weniger am Niveau von Laniers Spiel - er hat mit Philip Glass, Ornette Coleman, Terry Riley und anderen Avantgardisten gespielt - sondern an seinem Status in der Netzwelt. Lanier mag den weisen Narr spielen, doch in Wahrheit ist er viel tiefer mit der digitalen Kultur vertraut als die Braven, Begabten und Cleveren, die heute die Tech-Branche anführen.

Viele Größen kamen aus den Mittelklasse-Suburbs. Lanier nicht.

Lanier trennen von diesen auch biografisch Welten. Die meisten von ihnen wuchsen sorglos in Mittelklasse-Suburbs auf, in großen Häusern mit großen Garagen und Platz zum Basteln. Die Laniers hatten keine Garage. Zeitweise hatten sie nicht einmal ein Haus. Seine Mutter, die Künstlerin war, stammte aus Wien und emigrierte nach ihrer Befreiung aus dem KZ in die USA. Sein Vater, ebenfalls Jude, war vor den Pogromen aus der Ukraine geflohen. Lanier kam 1960 in New York auf die Welt. Bald darauf zog die Familie nach El Paso. Lanier besuchte eine Schule auf der anderen Seite der mexikanischen Grenze, in Ciudad Juárez, nachmittags übte er auf dem Steinway oder sah sich Kunstbände an. "Schokolade essen, Bach hören und Bilder von Hieronymus Bosch ansehen: Das war für mich das Größte", erzählte er dem New Yorker. "Ich hatte keine Freunde."

Als Lanier zehn Jahre alt war, starb seine Mutter bei einem Unfall. Er wurde schwer krank und verbrachte ein Jahr im Krankenhaus. Bevor er entlassen wurde, brannte das Haus der Familie ab. Inspiriert von den Buckminster-Fuller-Kuppeln entwarf Lanier ein neues. Doch weil kein Geld da war, zog sich der Bau über Jahre hin. Mit seinem Vater lebte er währenddessen in einem Zelt. Laniers erster Freund wurde der Astrophysiker Clyde Tombaugh, der 1930 den Zwergplaneten Pluto entdeckt hatte. Er lernte ihn an der New Mexico State University kennen, wo er mit 13 ein Mathematikstudium aufnahm und programmieren lernte.

Was folgte, war eine Blitzkarriere in der jungen Computerindustrie. Bei Atari und anderen Firmen komponierte Lanier Soundtracks für Videospiele und arbeitete an einer "post-symbolischen Programmiersprache", doch sein Hauptinteresse galt der "virtuellen Realität". Ende der Neunziger interessierte sich kaum mehr jemand für diesen Nebenstrang der digitalen Entwicklung. Lanier hingegen war weiterhin fasziniert von künstlichen digitalen Welten. Als Berater der Forschungsabteilung von Microsoft, seit Jahren sein wichtigster Arbeitgeber, war er an der Entwicklung des millionenfach verkauften Videospielsystems Kinect beteiligt, bei dem Kameras die Bewegungen des Spielers in Befehle übersetzen.

Nutzerdaten gegen Dienstleistung - das Prinzip hält Lanier für gefährlich

Hat sich ein Mann, der für einen schlecht beleumundeten Tech-Giganten digitale Spielchen erfindet, als Kritiker der Digitalkultur nicht disqualifiziert? In seinen Büchern legt Lanier überzeugend dar, warum er das anders sieht. Nicht die Technologie selbst hält er für gefährlich, im Gegenteil. Die Datenhandschuhe, Eingabemethoden und neuen Sprachen, an denen er arbeitete - sie alle sollten neue Formen menschlichen Ausdrucks, menschlicher Erfahrung und Kommunikation erlauben, so wie die Musikinstrumente vor ihnen.

Was ihn seit etwa 15 Jahren mehr und mehr bestürzt, ist der schleichende Verrat der Branche an ihren noch aus der Hippie-Ära stammenden Utopien von der Erweiterung menschlicher Erfahrung. Was heute zählt, so Lanier, ist die Konzentration von Reichtum und Macht in den Händen der Herrscher über die Netzwerke. Das Perfide daran ist, dass diese Machtkonzentration die paradoxe Folge von Dezentralisierung ist, eines demokratisch und offen erscheinenden Systems ist. Nur hat am Ende des vielen "Teilens" plötzlich der mächtigste Dienst alle Informationen.

Man kann gut verfolgen, wie Lanier allmählich zu dieser Einsicht gekommen ist. Im Jahr 2000 nahm er sich den Kybernetik-Propagandisten Ray Kurzweil vor. Unter dem Begriff "Singularity" hatte dieser aus Moore's Law die für das Jahr 2040 angekündigte Verschmelzung von Mensch und Maschine zur digitalen Erlösung von irdischer Mühsal prognostiziert. Lanier weist Kurzweil nicht nur nach, dass er irrt, er hält ihm auch vor, die Menschheit mit dieser falschen Prophezeiung zu lähmen.

Kritiker halten seine Vorschläge für weltfremd - sind sie aber nicht

Weniger populär war dann Laniers Breitseite gegen das Web 2.0 in seinem ersten Buch "You Are Not a Gadget" (2010). Viele Netz-Euphoriker rühmten damals die neuen Partizipationsmöglichkeiten von Diensten wie Wikipedia. Nach der Ernüchterung des ersten Internetjahrzehnts flackerte die Hoffnung auf, dank der "Weisheit der Menge" könne das Internet sein demokratisches Versprechen doch noch erfüllen.

Lanier hielt nichts davon. Als "digitalen Maoismus" bezeichnete er diese Kollektivutopie. Die strukturell angelegte Gleichmacherei lasse individuellen Stimmen keine Chance - und diese, nicht das Kollektiv, trieben Innovation voran. Doch erst mit seinem zweiten Buch, "Wem gehört die Zukunft" (2013), liefert Lanier eine umfassende Kritik an der Digitalkultur und ihren kulturellen und ökonomischen Grundlagen. Im Mittelpunkt steht dabei das Geschäftsmodell von Google, Facebook und anderen Netzkonzernen: der Tausch von Nutzerdaten gegen kostenlose Dienste wie die Internetsuche.

Die Krux an diesem Deal sei, dass sich diese Dienste auf die kostenlose Mitarbeit der Nutzer stützten. Damit verletzten sie das elementare Prinzip des Kapitalismus: Arbeit muss entlohnt werden. Auf Dauer, so Lanier, wird das zu einer immer unangefochteneren Macht der "Herrscher der Cloud" führen - und zur Verarmung der Mittelklasse. Heute, so schreibt er, leiden Musiker oder Journalisten unter dem Wertverfall ihrer Arbeit, morgen werden es Ärzte und Architekten sein.

Sein Vorschlag, ein System von Mikro- Bezahlung einzuführen, das Twitterer und Blogger für ihre Netzbeiträge entlohnen soll, wurde als weltfremd abgetan. Viele hielten Laniers Alternativmodell, nach dem jede Äußerung sofort einen monetären Gegenwert bekommt, für noch beängstigender. Alles andere als weltfremd ist jedoch Laniers humanistische Sorge um eine Welt, in der Gleichmacherei und unbezahltes Arbeiten zur Norm werden.

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