Digitale Revolution:Neue Instrumente der Skandalisierung

Mal sind es Handyvideos, die ein Kriegsverbrechen dokumentieren, dann wieder Spottbilder über einen Prominenten. Das Bestialische, das Nützliche und das Banale: Das Internet ermöglicht alles zu dokumentieren. Noch ist niemand wirklich auf ein solches Leben vorbereitet.

Ein Gastbeitrag von Bernhard Pörksen

Es ist eine Schlüsselszene des Enthüllungsjournalismus. Am Abend des 1. Oktober 1969 beginnt Daniel Ellsberg, die sogenannten Pentagon-Papiere zu kopieren. Sie belegen die schmutzigen Propagandatricks der amerikanischen Regierung bei der Vorbereitung des Vietnamkriegs. Wochenende für Wochenende steht Ellsberg am Kopierer, lässt Stapel um Stapel in seine Aktentasche gleiten, setzt manchmal, um als harmlos zu erscheinen, seinen kleinen Sohn zur Tarnung ein, wenn die Sicherheitskräfte plötzlich die Büros durchstreifen. Monate später drucken amerikanische Zeitungen Auszüge aus den Pentagon-Papieren; die Regierung steht als Kriegstreiber am Pranger.

Heute ginge alles ganz schnell. Man bräuchte nur ein paar Datenträger und könnte dann die Dokumente sofort selbst im Netz publizieren. Die digitale Revolution hat die Enthüllung und den Geheimnisverrat leicht gemacht. Handys und Smartphones, Digitalkameras, Computer, Facebook, persönliche Websites und Wikis sind längst allgemein zugängliche Instrumente der Skandalisierung.

Und was einmal digital vorliegt, besitzt eine neue Leichtigkeit und Beweglichkeit, kann blitzschnell kopiert, kombiniert und verbreitet werden. Bradley Manning, der mutmaßliche Zentralinformant von Wikileaks, benötigte für den größten Datendiebstahl der Geschichte ein paar Nachmittage und einige wenige CD-Rohlinge. Die technische Dimension der digitalen Revolution ist offensichtlich.

Weniger offensichtlich sind die gesellschaftlichen Folgewirkungen, die sich aus der allgemeinen publizistischen Selbstermächtigung und dem Zusammenspiel alter und neuer Medien ergeben. Es ist zunächst eine neue Logik der Enthüllung, die sich beobachten lässt.

Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen

Bernhard Pörksen, 43, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Gemeinsam mit Hanne Detel hat er das Buch "Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter" geschrieben.

(Foto: dpa)

Früher, in der Zeit der mächtigen Leitmedien, funktionierten Skandale nach dem Muster der linearen Kausalität. Es gab mächtige Journalisten und ein weitgehend ohnmächtiges Publikum. Es gab eine Normverletzung - irgendwer machte einen Skandal den Medien bekannt oder die recherchierten ihn selbst. Dann traf eine Redaktion die Publikationsentscheidung. Ganz am Schluss des Kommunikationsprozesses standen die Veröffentlichung und die mögliche Empörung des Publikums, das sich aufregen konnte - oder auch nicht.

Phase der mentalen Pubertät

Heute kann das Publikum selbst in Aktion treten. Es kann in Rekordgeschwindigkeit, gleichsam testweise, publizieren - ohne vorab zu verifizieren, ob das Behauptete überhaupt stimmt. Es wird zum Enthüller aus eigenem Recht. Das Publikum setzt seine eigenen Themen, attackiert Politiker oder Unternehmen und macht auf der Weltbühne sichtbar, wie empfindlich das Individuum geworden ist.

Das Böse, das Bestialische und das Banale, die Attacken eines ekelhaften Mobs, aber auch das aufklärerische Engagement, der digitale Aufstand gegen Diktatur und Gewalt - dies alles ist heute gleichermaßen sichtbar. Das zeigt: Wir befinden uns in einer Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medien. Wir stehen nicht mehr kindlich ungläubig vor einer unbekannten Welt, wir sind aber noch längst nicht erwachsen im Umgang mit ihr.

Mal sind es Handyvideos, die ein Kriegsverbrechen dokumentieren, dann wieder Spottbilder über irgendeinen Prominenten. Mal wird der Blog einer Schülerin bekannt, die ihr furchtbares Schulessen vor aller Augen seziert. Dann wieder entflammt ein Shitstorm gegen eine Firma, die - ob nun mehr oder weniger gut begründet - im Verdacht steht, sich falsch zu verhalten.

Schulen und Universitäten müssen reagieren

Die Massenmedien werden in diesem allgemeinen Kampf um Aufmerksamkeit keineswegs unwichtig. So etwas glauben nur aufgeregte Social-Media-Berater, die mit solchen Ansagen ihr Geld verdienen müssen (wenn sie es überhaupt glauben und nicht nur sagen). Die rein netzinterne Erregung verpufft in der Regel sehr schnell. Die gesellschaftlich wirksame Empörung, die etwa den Rücktritt eines Politikers auslöst oder ein Unternehmen tatsächlich zum Handeln zwingt, braucht notwendig den Medienmix, die machtvolle Intervention von Zeitungs-, Fernseh- und Radiomachern.

So bilden klassische Leitmedien, etablierte Online-Magazine und das aus der Ohnmacht entlassene Publikum im digitalen Zeitalter ein Wirkungsnetz eigener Art - und alle gemeinsam verändern sie das Klima in dieser Republik. Die Folgen: Es regiert, erstens, ein neuer Geschwindigkeitsrausch, ein allgemeiner Schnelligkeitswettbewerb - und zwar universal und in allen Medien. Es dominiert, zweitens, bei Politikern und Unternehmen eine neue Ängstlichkeit, eine verzagte Verkrampftheit: Man will nicht derjenige sein, der die digitale Normpolizei provoziert und sich damit den nächsten Shitstorm einhandelt.

Und es zeigen sich, drittens, neue Asymmetrien, für unsere aktuelle Medienwirklichkeit charakteristische Missverhältnisse zwischen Ursache und Wirkung, Anlass und Effekt. Schon ein einzelner, idiotischer Filmtrailer, in dem der Prophet Mohammed verunglimpft wird, kann blutige, mörderische Gewaltausbrüche hervorrufen und im Extremfall im globalen Hassbeben enden.

Lehrpläne müssten sich verändern

Auf ein Leben im Wirkungsnetz plötzlich aufschäumender medialer Aufmerksamkeitsexzesse ist jedoch niemand wirklich vorbereitet. Denn dieses Leben braucht ein anderes Gespür für Netzwerk-Kausalität und eine Ahnung von den prinzipiell gewaltigen Wirkungsmöglichkeiten, die man eben auch als ein Zehnjähriger besitzt, wenn man seine Spaß- und Spottvideos ins Netz stellt.

Im Umgang mit den Web-2.0-Technologien zeigt sich ein noch unentdeckter, noch unverstandener Bildungsauftrag, der an den Schulen und Universitäten die Lehrpläne verändern müsste. Natürlich, es gibt längst zahlreiche Kurse in Sachen Medienkompetenz. Und es ist vermutlich auch irgendwie nützlich, wenn alle PowerPoint lernen und die neueste Spielerei in einem Computerpool ausprobieren dürfen. Aber das reicht bei Weitem nicht aus.

Die Phase der mentalen Pubertät im Angesicht der digitalen Revolution kann nur einem reiferen Gebrauch weichen, wenn jeder versteht, dass er selbst zum Sender geworden ist. Wenn er lernt, selbst darüber zu entscheiden, was öffentlich wird - die böse Botschaft, die kluge Idee, der irrelevante Quatsch.

Eine neue Ethik der Medien wird notwendig werden, die einen erwachsenen Umgang mit den neuen Möglichkeiten erlaubt. Wir brauchen ein technisch informiertes Training der moralischen Phantasie. Dies ist die entscheidende Schlüsselqualifikation unserer Zeit.

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