Debatte zur Anonymität im Netz:Wenn Habermas auf @biggi37 trifft

Es ist sinnlos, die Debatte um Klarnamen im Internet mit Ja oder Nein beantworten zu wollen: Die Erwartungen, den Diskurs über solch einfache Methoden steuern zu können, sind zu groß. Ein anderer Faktor ist entscheidender.

Johan Schloemann

Seit der mörderischen politischen Säuberungsaktion des Anders Behring Breivik gärt und sprudelt sie wieder, die Diskussion über anonyme Beiträge im Internet. Der zentrale Vorwurf lautet: Es gibt einen Zusammenhang zwischen namenloser Äußerung im Netz und verschwörungstheoretischer Radikalisierung.

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Schwer vorstellbar, dass Jürgen Habermas sich in einem Online-Forum oder in einer Bürgerversammlung über den Bau einer neuen Moschee beispielsweise als starnberg68 zu Wort meldet.

(Foto: ddp)

Das Missliche am Verlauf dieser Debatte ist, dass sie im Bann des extremen Straftäters steht. So hat der Bundesinnenminister Anfang der Woche mit undurchdachten Überlegungen suggeriert, man könne ungewollte gedankliche Einflüsse, könne die ganze Ideenmaschine des Bösen einfach durch Verbote und Ausweispflicht ausschalten.

Doch auch das Lager der Debatten-Avatare, welches Anonymität im Internet so leidenschaftlich verteidigt, als gehe es immer um Leben und Tod, argumentiert spiegelbildlich mit Extremfällen: etwa mit vom Tode bedrohten Blogger-Dissidenten in Syrien oder mit Vergewaltigungsopfern, die ihre Identität schützen wollen.

So reduziert man den Meinungsaustausch im Internet einerseits auf ein Problem der inneren Sicherheit, andererseits auf die permanente Notwehr gegen dämonische Überwachungssysteme. Mit dieser übermäßigen Verrechtlichung und Verschärfung aber, der es nur noch um Schutz oder Auffindbarkeit des Einzelnen geht, erstickt man eine vernünftige Verständigung über den Normalbetrieb der digitalen Deliberation in demokratischen Staaten.

Es geht nicht einfach um die Aufspürung von gefährlichem Gedankenmüll durch investigative Sondereinheiten; die Frage ist vielmehr, wie der Diskurs im Internet insgesamt organisiert sein müsste, damit Auseinandersetzungen - ohne dass es letztlich eine Garantie dafür gibt - wahrscheinlicher auf zivile Weise ausgetragen werden als auf hasserfüllte und gewalttätige Weise.

Das "Spickmich"-Urteil zählt

Am leichtesten sollten noch diejenigen Angriffe auf die Anonymität im Netz zu erledigen sein, die mittels Recht und Gesetz erfolgen sollen. Denn diese Versuche sind schlicht verfassungswidrig. Das ergibt sich schon allgemein aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung, welches die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Volkszählungsurteil von 1983 aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht entwickelt hat: "Freie Entfaltung der Persönlichkeit" bedeutet demnach - weil Grundrechte Abwehrrechte gegen den Staat sind -, dass der Einzelne auch die öffentliche Nicht-Entfaltung seiner Persönlichkeit wählen darf, wenn er dies bevorzugt.

Konkret heißt es im "Spickmich"-Urteil des Bundesgerichtshofs von 2009, das vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde: "Die anonyme Nutzung ist dem Internet immanent." Eine "Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit auf Äußerungen, die einem bestimmten Individuum zugeordnet werden können", so das Gericht, sei mit Artikel 5 des Grundgesetzes "nicht vereinbar". So viel zu den "Grundsätzen der Rechtsordnung", von denen der Innenminister spricht.

Schwieriger ist die Frage, ob die Verwendung von Klarnamen - anstelle von "biggi37" oder "Fjordman" - wenn nicht vorgeschrieben, so doch gewünscht werden soll. Die Demokratie in Flächenstaaten folgt bis heute einem Face-to-face-Ideal der Bürgerversammlung, auch wenn sich die meisten Bürger des Landes de facto niemals zu Gesicht bekommen.

Dieser unauflösbare Widerspruch von fiktiver Gemeinschaft und realer Privatheit ist nicht etwa nur organisatorischer Natur: Es hat sich auch das moderne Ideal der Autonomie der Person, wie es in der Aufklärung Immanuel Kant formulierte, in zwei Richtungen ausgeprägt. Autonomie heißt einerseits, als konkretes bürgerliches Individuum auf dem öffentlichen Forum selbstbewusst aufzutreten und sich gegenüber anderen um begründetes Argumentieren zu bemühen.

Demokratie ist etwas Wackeliges

Zu einem solchen Auftritt der "vollen" autonomen Persönlichkeit gehört traditionell auch der Ausweis des bürgerlichen Namens, damit man weiß, wer da "Ich" sagt - jedenfalls kann man es sich schlecht vorstellen, dass Jürgen Habermas sich in einem Online-Forum oder in einer Bürgerversammlung über den Bau einer neuen Moschee beispielsweise als starnberg68 zu Wort meldet.

Autonomie heißt in einem liberalen Staat aber auch, über das Ausmaß der Beteiligung an öffentlichen Dingen und der Einbringung seiner Persönlichkeit selbst entscheiden zu können. Die Demokratie ist in dieser Hinsicht, so stabil sie institutionell auch scheinen mag, stets etwas Wackeliges, weil an Mitwirkung und Interesse nur appelliert, aber nichts davon eingefordert werden kann.

Nach diesem Verständnis von individueller Autonomie kann man im Internet seine Hausfassade verpixeln lassen, ein Heimkino installieren, seinen Namen verschweigen und als Anonymus auch mal so richtig die Sau rauslassen, solange die Grenze der Strafbarkeit nicht überschritten wird. "Es geht niemanden etwas an, was wir machen, solange es niemandem schadet", so Constanze Kurz vom Chaos Computer Club in einem Meinungsartikel.

Pauschalaussagen sind sinnlos

Bei fortschreitender Atomisierung von Vorlieben und Milieus in einer komplexen Gesellschaft wäre dann das Internet keine bloße Fluchtwelt oder nur ein anderer Kommunikationskanal, sondern in seiner Vielfalt nicht weniger als Ausdruck und Abbild dieser gesamten Gesellschaft. Und ebendies ist auch der Grund, weswegen pauschale Pro- und Contra-Aussagen über Anonymität im Internet so sinnlos sind - so sinnlos wie die Forderung, die moderne Autonomie des Individuums dürfe sich nur in einer einzigen Ausprägung ausdrücken.

Wer seinen Namen bei Facebook angibt, kann in der Tat an einem entspannteren Austausch teilnehmen als in anonymen Beleidigungsforen, er muss aber auch den Preis zahlen wollen, personalisierte Werbung zu erhalten. Nutzer eines Krebs-Selbsthilfe-Forums verdienen natürlich die gleiche Verschwiegenheit wie beim realen Arztbesuch; von ihnen zu verlangen, dass ihr Klarname für Nachbarn, Pharmafirmen oder Versicherungen im Netz sichtbar sein müsse, wäre absurd.

Bei solchen heiklen Themen lässt sich in der Anonymität ja sogar oft direkter und intimer kommunizieren als im realen Kontakt. Ob man hingegen in einem Forum über die Reparatur alter Zündapp-Mopeds seinen bürgerlichen Namen angibt oder nicht, ist einfach ziemlich egal.

Das Gesamtklima entscheidet mit

Wird jedoch über kontroverse Fragen des Gemeinwohls und des öffentlichen Lebens diskutiert - von Sarrazin bis Atomkraft -, so spricht Einiges dafür, dass die Verwendung von Klarnamen zur Zivilisierung der Debatte beiträgt. Dass auf sueddeutsche.de die Leserkommentare trotzdem anonym sind, zeigt an, dass diese Fragen auch innerhalb von großen Medienhäusern nicht unumstritten sind.

Wie immer man sich in dieser Debatte entscheidet: Die Erwartungen in beide Richtungen sollten nicht zu groß sein - denn das Gesamtklima der Gesellschaft entscheidet mit.

Es ist eine Illusion von Netzromantikern, dass sich Statusunterschiede durch Anonymität in der Herrschaftsfreiheit auflösen. Umgekehrt zeigt der Aufstieg der fremdenfeindlichen Parteien in Europa: Eine schleichende Vergiftung öffentlicher Diskurse ist auch unter der Verwendung von Klarnamen möglich.

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