Schule und Sport:Es bewegt sich was im Sportunterricht

Lesezeit: 5 min

Weniger sportliche Ziele als das Einschleichen ins Mädcheninternat hat dieser Schüler im Sinne. Szene aus der Klamotte "Die tollen Tanten schlagen zu" von 1971. (Foto: imago/United Archives)

Dicke Kinder, die keinen Purzelbaum mehr können - diese Klage kommt regelmäßig. Und doch wird kaum ein Schulfach derart unterschätzt wie Sport. Was kann, soll, will der Unterricht leisten?

Von Thomas Hahn

Roland Rauhut würde nie behaupten, dass seine Unterrichtsmethoden die besten der Welt seien, aber auf die mit dem schmalen Einer schwört er. Rudern ist für alle Siebtklässler Pflichtfach am Hamburger Wilhelm-Gymnasium, deshalb trifft sich der Sportlehrer am Anfang des Schuljahres mit den Jugendlichen beim Bootshaus der Schulbehörde am Ostufer der Alster. Zusammen lassen sie die schlanken Skull-Boote zu Wasser. Zwei Kinder übernehmen jeweils einen Einer, und dann geht es los. Ein Kind hält das Boot, das andere steigt auf den Rollsitz und übt rudern. Beine strecken, Skulls durchs Wasser führen, Beine anziehen, Skulls übers Wasser führen, und so weiter. Keine leichte Übung im wackligen Einer. "Die Kinder müssen sich voll konzentrieren, weil die Rückmeldung des Bootes auf einen Fehler sehr direkt ist", sagt Rauhut.

Aber im Sommer ist die Alster ja warm, und der Effekt solcher Schulstunden rechtfertigt für Rauhut das Risiko, dass die Schüler auch mal reinfallen: Denn sie trainieren dabei nicht nur ihre Körper und lernen einen komplexen Bewegungsablauf. Weil sie sich gegenseitig helfen müssen, schulen sie auch ihr Verantwortungsbewusstsein. Auf den sanften Alsterwellen bekommen sie außerdem ein Gespür für die Natur des Wassers. Und wenn sich jemand darüber wundert, dass diese alte, strenge Sportart Rudern derart vielfältige Erfahrungen für junge Leute bringen kann, dann antwortet Rauhut mit hanseatischer Seelenruhe: "Na ja, Sportunterricht beinhaltet das eben."

Klassenkampf - der Schulratgeber
:Geradeaus laufen reicht nicht mehr

Früher bekam im Sportunterricht fast jeder eine 1, heute sind die Lehrer mit der Bestnote knausriger. Warum das so ist und die Sportnote bei der Versetzung sehr wichtig sein kann.

Von Matthias Kohlmaier

Kaum ein Schulfach wird derart unterschätzt wie der Sport. Für viele ist Sport eine Nebensache ohne Tiefgang, Massenunterhaltung, Stoff für Stammtischpalaver und sonst nichts. Viele Leute können über die Abseitsfallen aus dem Fernsehen philosophieren, aber wissen nicht, wie es sich anfühlt, mit einem Ball am Fuß über eine Wiese zu laufen. In Wahrheit ist Sport eine Kultur, in der reale Kräfte auf reale Körper wirken. Sport ist die Befreiung des Stadtmenschen aus seiner selbst verschuldeten Unbeweglichkeit: für neue Erlebnishorizonte in einer technisierten Welt, für bessere Gesundheit, vorbehaltlosen Teamgeist. Sport ist nicht nur was zum Zuschauen. Sport kann man selber machen. Man muss nur wissen, wo und wie. Und genau das hat die Schule der Jugend zu vermitteln.

Die Frage ist, wie die Schule dieser Verantwortung gerecht werden kann, wenn die Leistungsgesellschaft zwar einerseits gerne Olympiasieger und Fußball-Weltmeister feiert. Aber andererseits unter Bildung vor allem versteht, die sogenannten Hauptfächer zu pflegen, die allesamt im Sitzen stattfinden, Mathe, Deutsch, Englisch und so weiter. Die Debatte dazu läuft seit Jahrzehnten. Sie lebt immer wieder auf, wenn Wissenschaftler darauf hinweisen, dass die Kinder dicker werden und nicht mal mehr einen Purzelbaum schlagen können. Und sie war immer schwierig, weil man das Fach Sport natürlich nicht überschätzen darf. Sportmöglichkeiten gibt es schließlich auch außerhalb der Schule, in Vereinen, im Park, bei privaten Anbietern. Zudem: Sind Naturwissenschaften, Sprachen, Gesellschaftskunde für das Verständnis der Welt nicht wirklich wichtiger als Volleyball und Weitsprung?

Es entfallen zu viele Sportstunden

In der Vergangenheit drehte sich die Diskussion vor allem um die Frage, ob die Stundentafeln im Land genügend verpflichtenden Sportunterricht pro Woche bereithalten. Und natürlich fanden Fachlehrer und Wissenschaftler: Nein, tun sie nicht. 2006 brachte ein Forscherteam unter Leitung des Paderborner Sportwissenschaftlers Wolf-Dietrich Brettschneider die sogenannte Sprint-Studie heraus. Der Deutsche Sportbund hatte sie in Auftrag gegeben, weil Deutschland sich seinerzeit für Olympische Spiele bewarb und besonderes Sportinteresse zeigen musste. Bei der Studie kam unter anderem heraus, dass zu viele Sportstunden ausfallen und zu viele fachfremde Lehrkräfte Sport in den Grundschulen unterrichten.

An diesem Befund hat sich so gut wie nichts geändert. Vom Ideal der täglichen Sportstunde ist man weit entfernt. Drei Stunden pro Woche gelten als viel. In Hamburg erteilen die meisten Schulen zwei, was Roland Rauhut mit der knappen Bemerkung kommentiert: "Das dürfte gerne mehr sein." Günter Stibbe, Professor am Institut für Schulsport und Schulentwicklung der Sporthochschule Köln, glaubt sogar: "Über die Rahmenbedingungen werden wir noch in 20 Jahren diskutieren."

Wie es um diese aktuell steht? Schwer zu sagen. Schulsport ist Ländersache, da verliert man leicht den Überblick. Und die Forderung der Sprint-Studie, die Forschung zum Thema zu vertiefen, ist folgenlos verhallt. "Sie kriegen Forschungsgeld, wenn sie untersuchen, wie man Talente fördert", sagt Professor Stibbe, "nicht unbedingt für Schulsportforschung."

Trotzdem: Es bewegt sich was rund um den Sportunterricht. Die Herausforderungen werden größer, weil die soziale Kluft in der Gesellschaft wächst. Der Befund, dass die Kinder dicker werden, wird zum Klischee, wenn man die sogenannten bildungsnahen Haushalte betrachtet. Dort kennen viele Eltern den Wert des Sports und schicken die Kinder in Vereine. In Hamburg nutzen 60 Schulen Elbe, Alster und Nebenkanäle als zusätzlichen Sportplatz fürs Rudern - die meisten sind Gymnasien.

Schlechter betuchte Familien und Flüchtlinge haben dagegen andere Probleme, als ihren Nachwuchs zum Training zu bringen oder auf eine ausgewogene Ernährung zu achten. Viele dieser Kinder kommen nur in der Schule mit Sport in Berührung. Aber Schulsportstätten sind nicht immer gut ausgestattet. Schwimmunterricht ist oft gar nicht mehr möglich, weil örtliche Bäder schließen. Viele Lehrer befinden sich in einem vergeblichen Kampf um eine ausgewogene Leibeserziehung für alle.

"Wir haben Schülerinnen und Schüler aus bestimmten Milieus, die massive koordinative Probleme haben. Und wir haben die sehr talentierten, die in ihrer Freizeit viel Sport treiben", so Stibbe. "Die Schere geht immer weiter auseinander. Beide Seiten unter einen Hut zu bringen, ist schwierig."

Auf der anderen Seite war der Schulsport noch nie so vielfältig und kindgerecht wie heute. Angebote in den neuen Ganztagsschulen haben das Fach gestärkt. Das Konzept einer "bewegten Grundschule" mit Zwischendurch-Gymnastik oder Spielräumen in den Pausen hat sich durchgesetzt; Stibbe nennt es "eine Erfolgsgeschichte". Und die Verbände traditioneller Sportarten bringen sich längst mit neuen Ideen ein, um vor der Jugend neben Zeitgeist-Bewegungen wie Inlineskating und Skateboarden bestehen zu können.

Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) zum Beispiel hat erkannt, dass seine herkömmlichen Disziplinen nicht geeignet sind, um Kinder für die Grundbewegungsarten Laufen, Springen, Werfen zu begeistern. "Es motiviert nicht, 50 Meter geradeaus zu rennen", sagt Fred Eberle, im DLV Vizepräsident für Bildung und Wissenschaft, "aber es motiviert möglicherweise, auf 30 Metern irgendwelche Hindernisse zu überwinden." Team-Wettbewerbe, neuartige Wurfgeräte, Staffel- und Sprungspiele versucht der DLV deshalb in Lehrpläne und Bundesjugendspiele einzubringen.

Im Turnunterricht geht es nicht mehr nur um Felgaufschwung und Kastensprünge, sondern auch um kreative Bewegungsformate wie Parkour, eine Art Hindernis-Turnen im urbanen Gelände. "Die traditionellen Werte spielen nach wie vor eine Rolle, aber sie werden ausgeweitet", sagt Stibbe. Die Folge ist ein auffrisierter Sportunterricht, der sich pädagogisch weiterentwickelt hat und den Geist der Zeit atmet.

Eine Stimmung zwischen Klage und Aufbruch geht von den Sportlehrern aus. Es nervt sie, dass ihr Fach wie der kleine leichte Bruder im Konzept der Schulbildung dasteht, obwohl kein anderes den Wert der Bewegung vermittelt. Aber dankbar greifen sie die Chancen auf, die sich daraus ergeben, dass ihr Metier nicht auf Klassenzimmer und ganz strenge Lehrpläne festgelegt ist. Lehrer Rauhut jedenfalls spürt durchaus so etwas wie eine Freiheit im Mangel. Das Wilhelm-Gymnasium hat keine schicke Laufbahn, dafür den Alsterpark vor der Tür für bewegten Unterricht im Grünen. Die Turnhalle ist etwas zu klein, aber groß genug zum Inlineskaten. Und das Wasser ist so nah, dass die Kinder dort nach der alten Schule des Olympiasports Rudern fürs Leben lernen können.

© SZ vom 11.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: