Politik und Hochschule:Selber fliegen

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Tic-tac, die Stunde der Altparteien hat geschlagen - das war ein Wahlslogan von Podemos. (Foto: Gerard Julien/AFP)

Eine Universität als Wiege revolutionärer Ideen, wann hat es das zuletzt gegeben? Der Aufstieg von Podemos in Spanien ist auch ein Lehrstück darüber, wie man politische Wissenschaften auf die Straße bringt.

Von Sebastian Schoepp

Die Madrider Universität Complutense liegt etwas außerhalb des Zentrums, unweit des Regierungssitzes Moncloa. Sie ist keine Schönheit, in den 1920er-Jahren wollte man sie zu einer Uni mit Weltgeltung machen und schickte eigens eine Delegation an die großen Hochschulen, um deren Architektur zu studieren. Von den Anklängen an den Bauhaus-Stil des Campus ist aber nur mehr wenig zu sehen, denn im Spanischen Bürgerkrieg (1936 bis 1939) verlief hier die Hauptkampflinie. Drei Jahre rannten die Truppen des Putschgenerals Franco vergeblich gegen die buntscheckige Truppe aus Anarchisten, Republikanern und Idealisten an, die die Complutense und die Hauptstadt zäh gegen die braune Flut verteidigten, was Ernest Hemingway so romantisch inspirierte.

Die Uni ist auch nach Francos Sieg und dem Wiederaufbau im Stile der Diktatur ein Widerstandsnest geblieben. Und auch bei den jüngsten Umwälzungen in Spanien hat sie eine Rolle gespielt, wie sie Universitäten heutzutage kaum noch zukommt - als Ort der Auflehnung und Wiege neuer Ideen. Bei internationalen Rankings wird das jedoch nicht prämiert. Die Complutense belegt mit ihren fast 100 000 Studierenden eher hintere Ränge, beim QS World University Ranking Platz 226, beim Times Higher Education Ranking landete sie in der gleichen Gruppe wie die russische Kasan-Universität oder die Uni Greifswald. Die Qualität ist durch die harten Sparmaßnahmen der letzten Jahre nicht gestiegen.

Seminare an der Complutense brachten Politiker hervor, die das Gesicht der Linken veränderten

Und doch hat die Madrider Uni heute für Spanien und Europa mehr Bedeutung als möglicherweise je zuvor in ihrer mehr als 500-jährigen Geschichte. Die Universidad Complutense (UCM) heißt so, weil sie einst in Alcalá de Henares bei Madrid gegründet wurde, das auf Lateinisch Complutum hieß. Aus ihren Seminaren sind in letzter Zeit einige Politiker hervorgegangen, die der Linken in Südeuropa ein neues Gesicht gegeben haben: Pablo Iglesias, Íñigo Errejón und Juan Carlos Monedero, drei politische Talente, die vielleicht Talente geblieben wären, wenn die Zeiten in Spanien nicht derart nachdrücklich nach neuen Konzepten verlangt hätten.

Normalerweise gleicht das Verhältnis des Politikers zur politischen Wissenschaft ja eher dem des Vogels zur Ornithologie. Pablo Iglesias, Iñigo Errejón und Juan Carlos Monedero aber haben sich beizeiten entschlossen, selber zu fliegen. Ihre Parteigründung Podemos (Wir schaffen das) hat die politische Wissenschaft auf die Straße gebracht, und sie lässt damit nicht nur die verkrustete Traditions-Linke in Spanien alt aussehen, sondern schließt sogar zu den Großen auf. Bei der Wahl am 20. Dezember trennten Podemos nur wenige Prozentpunkte davon, zweitstärkste Kraft vor den Sozialdemokraten zu werden.

Podemos habe eben die richtigen Antworten gegeben, sagt Jacobo Rivero, der ein Buch über die Bewegung geschrieben hat. Die Partei habe Spanien klargemacht, dass es sich verändern müsse. "Das ist der Beginn einer neuen Linken in ganz Europa", glaubt Rivero.

Juan Carlos Monedero war der Vordenker. Wenn man ihn fragt, was sich in Spanien verändert hat, ist es, als würde man einen Wasserlauf anstechen. Monedero berichtet vom 15. Mai 2011, dem sogenannten 15 M, "das war unser golpe de suerte", unser Glücksmoment. Damals begannen die Massenproteste gegen die Sparmaßnahmen in Spanien, Hunderttausende demonstrierten an der Puerta de Sol in Madrid. Der 15 M ist ein geradezu mythisches Datum, er war Spaniens Tahrir-Platz, der Anfang einer Bewegung, die ausstrahlte auf Occupy in Frankfurt, auf São Paulo und in den Gezi-Park von Istanbul. Was dem 15 M fehlte, war eine Ideologie oder auch nur eine Erklärung, was schiefgegangen war mit dem spanischen Konsum- und Immobilienboom. Es war die Stunde von Kapitalismuskritikern wie Monedero.

Er hatte an der Complutense 1984 begonnen, politische Wissenschaften zu studieren, schrieb in Heidelberg seine Doktorarbeit über die deutsche Wiedervereinigung, der er ein Legitimitätsproblem attestierte. Das sagt einiges aus über das Verhältnis der spanischen Linken zu Deutschland. Angela Merkel sollte sich überlegen, ob ihr Land noch mal so eine Rolle spielen wolle wie bereits zweimal in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, sagt Monedero im Gespräch.

Aus Deutschland sei Monedero damals verändert zurückgekommen, gewachsen, aber auch irgendwie hochmütig, sagt seine frühere Dozentin, die Professorin Consuelo Laiz. 1992 begann Monedero, Seminare an der Complutense zu halten. Doch das habe ihm nicht gereicht, sein Geltungsbedürfnis sei größer gewesen. Er wollte nicht nur analysieren, er wollte verändern. Doch wer hörte um die Jahrtausendwende, zur Blütezeit des Marktliberalismus, schon einem Linksintellektuellen zu?

"Hugo Chávez tat das", sagt Laiz. Monedero ging nach Lateinamerika, das gerade begonnen hatte, links zu wählen, als alle Welt rechts wählte. Venezuela mit seinem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" war ein faszinierendes Studierfeld für einen Politwissenschaftler. Doch Monedero tat mehr. Er wurde Berater des Präsidenten. Lateinamerika habe gezeigt, dass man als Linker nicht in Verlierer-Melancholie verharren müsse, sagt Monedero heute beim Café in der Redaktion der Internet-Zeitung Público an der Gran Vía in Madrid.

Nach dem 15 M begann Monedero, sich seiner Heimat zuzuwenden, er polemisierte in alternativen Internet-Talkshows wie "La Tuerka" und unterfütterte das diffuse Unwohlsein der Straße mit einem geisteswissenschaftlichen Fundament. Dabei mischte er lateinamerikanischen Linkspopulismus mit Elitenkritik à la Antonio Gramsci und den postmarxistischen Lehren von Chantal Mouffe, laut denen moderne linke Bewegungen in einer "radikalen Demokratie" wurzeln sollten. Populismus gilt in diesem Zusammenhang nicht als Sünde, sondern als die Antwort auf die technokratische Demokratie.

Der 15 M schien Monedero der ideale Feldversuch zu sein. In seinen Büchern predigt er das Primat der Politik und der Gemeinschaft vor der Wirtschaft. Dabei kann er sich einig fühlen mit anderen Denkern aus dem Umfeld der Complutense wie dem Soziologen César Rendueles, dessen gesellschaftskritische Bücher in Spanien Leserpreise gewinnen, was soziologische Traktate sonst ja eher selten schaffen.

"Sie selber sind alles andere als Populisten", sagt die Dozentin über ihre Ex-Studenten

Talkshowauftritte führten Monedero näher zusammen mit zwei weiteren Complutense-Kommilitonen, Pablo Igelsias und Íñigo Errejón. Das Trio gründete 2014 Podemos. Der fernseherfahrene Iglesias war zuständig für den öffentlichen Diskurs, Monedero für die Ideologie. Errejón wurde der Mann fürs Grobe, ein Generalsekretär wie Heiner Geißler zu seinen aggressivsten Zeiten. Dass Errejóns analytische Schärfe in starkem Kontrast zu seinem Babyface steht, ist bei Twitter Dauerthema, was Errejón selbst aber eher als Werbeargument zu sehen scheint. Sein jungenhaftes Auftreten erleichtert ihm den Zugang über den TV-Schirm in die Wohnstuben. Bei der Europawahl wenige Monate nach der Gründung erzielte Podemos das viertbeste Ergebnis in Spanien. Iglesias wurde Europa-Abgeordneter.

Consuelo Laiz sagt über ihre drei Ex-Studenten: "Sie selbst sind alles andere als Populisten, aber sie pflegen einen populistischen Diskurs." Allerdings hätten sie es auf diese Weise geschafft , viele Spanier aus ihrer passiven Unterwürfigkeit zu holen, sie hätten gezeigt, dass es da ein Fenster gebe zur politischen Teilnahme. An ihrer Tauglichkeit, den Staat zu führen, hat ihre frühere Professorin allerdings Zweifel.

Am Erfolg von Podemos hat auch ein Sündenfall nichts geändert. Als Berater von Hugo Chávez hatte Monedero sechsstellige Beträge kassiert und in Spanien nicht ordnungsgemäß versteuert. Als das rauskam, stand der Podemos-Ideologe blamiert da, obwohl er den fehlenden Betrag erstattete. Íñigo Errejón wiederum soll Geld von der Universität Málaga für wissenschaftliche Arbeit kassiert haben, für die er im Wahlkampf unmöglich Zeit haben konnte. Podemos-Analyst Jacobo Rivero meint zwar, im Vergleich zu den Skandalen anderer Parteien sei das ein Witz. Doch für Monedero reichte es, um sich aus der Politarbeit zurückzuziehen. Er kommentierte nur noch aus der Ferne, als seine Weggefährten bei der Parlamentswahl am 20. Dezember zwanzig Prozent der Stimmen holten. Pablo Iglesias sieht sich dadurch plötzlich in die Lage versetzt, mit den Sozialisten über eine Regierungsbildung zu verhandeln. Der Weg von der Complutense in die Moncloa scheint nicht mehr weit zu sein.

© SZ vom 01.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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