Geisteswissenschaft:Fragen, verstehen, mitfühlen

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Eine Gesellschaft darf nicht nur im Rechnen groß sein. Das geht nur mit Geisteswissenschaften.

Von Alexander Huber

Natur- und Geisteswissenschaften sollten sich ergänzen, das ist ebenso offensichtlich wie banal. Dass es ein Missverhältnis in der Wertschätzung gibt, allerdings auch.

Deutschland braucht mehr Ingenieure und Informatiker. Mathematik darf nicht das meistgefürchtete Schulfach sein. Die Bedeutung der Mint-Kompetenzen ist gesellschaftspolitischer Konsens. Kaum ein Geisteswissenschaftler wird das ernsthaft bestreiten.

Geisteswissenschaftliche Bildung sensibilisiert für das, was nicht Ich ist

Umgekehrt fällt der Beifall deutlich bescheidener aus. Es gibt eine gewisse Überheblichkeit unter Bits-und-Bytes-Experten, was die gesellschaftliche Relevanz von Geisteswissenschaften angeht. Man beansprucht für sich die hard facts und die Deutungshoheit. Dieser Dünkel gehört, so scheint es, wieder zum herrschenden öffentlichen Diskurs.

Dabei gäbe es viel zu tun, um dem Diktat der Algorithmen und des Operationalisierbaren entgegenzutreten, mit dem die selbstgewissen Macher die Welt überziehen. Die Geisteswissenschaften verhandeln, was sich der direkten Verwertbarkeit entzieht. Ihr Gegenstand ist der Mensch, das heißt: das Unwägbare, Mehrdeutige, Unhintergehbare. Ein geschichtlich bestimmtes, aber deutungsoffenes Wesen, das sich in einer zunehmend komplexer scheinenden Welt behaupten muss.

"Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält." (Foto: imago/Hoffmann)

Es geht natürlich auch eine Nummer kleiner: Was viele in der Schule an, sagen wir, Fächern wie Deutsch oder Ethik stört, ist die Zumutung, sich mit etwas zu beschäftigen, was einem nicht nur fremd, sondern auch anachronistisch erscheint: Was soll diese merkwürdige Sprache? Kann man das nicht auch kürzer sagen? Was geht mich das an?

Man könnte den empfundenen Zumutungen ausweichen und sich in leicht Verdauliches retten, die historische Differenz minimieren, sich auf angeblich Schülernahes verlegen. Man könnte Sachkompetenz durch Methodenzauber ersetzen. Oder Textschnipsel in die Klasse werfen, zu denen jeder sagen darf, was ihm einfällt. Dann werden noch ein paar Filme gedreht, und schon hat man einen Unterricht, der keinem mehr wehtut.

Das, was Geisteswissenschaften wollen und vermitteln sollten, wäre damit verraten: sich dem Fremden aussetzen, sich an ihm abarbeiten, es nicht voreilig abtun. Und vielleicht sehen, wie ich als Mensch mit Geschichte mich zu dem Geschichtlichen, dem ich begegne, verhalten kann. Das ist eine Herangehensweise, die nicht ein- oder aussortiert. Zu ihr gehört das Verlangsamen des Blicks. Man nennt das Verstehen, das Gegenteil von Bescheidwissen.

Bildung als Fremdheitstoleranz. Die Erträge an hard facts scheinen zunächst gering, aber der Gewinn an Humanität groß. Durch Geisteswissenschaften verändert man sich, indem man sie betreibt. Sie sind weder Dekor noch Divertimento, mit dem sich eine Kultur folgenlos schmücken kann. Sie nötigen zur Selbstreflexion. Und wer diesen Zumutungspfad einmal beschritten hat, findet: die Kompetenz, verstreute Sachverhalte zusammenzudenken; aus der Informationsflut Entscheidendes auswählen und bewerten zu können.

Es gehört zum allgemeinen Lamento, die sich ausbreitende Leseaversion zu beklagen; in der Schule ist diese nicht zu übersehen, das gilt auch für das Gymnasium. Sie ist Teil einer Entwicklung, die uns alle betrifft. Die allgemeine Aufmerksamkeitsspanne schrumpft und mit ihr die Fähigkeit, sich auf das Unvertraute einzulassen.

Gerade darin liegt jedoch eine Chance: Schulpolitik kann (und muss) die Geisteswissenschaften stärken. Wer will Ingenieure, die perfekt die Abgaswerte von Motoren manipulieren können? Flott rechnende Finanzökonomen, die mit moralisch fragwürdigen Geschäften viel Geld verdienen? Naturwissenschaftler, denen die Tragweite ihrer Erfindungen gleichgültig ist?

Dafür ist geisteswissenschaftliche Bildung gut: Sie sensibilisiert für das, was nicht Ich ist. Sie zwingt zur Auseinandersetzung mit dem, was sich dem rationalen Kalkül entzieht. Sie ermöglicht Empathiefähigkeit. Stellt infrage. Verschafft einen Überblick und damit Distanz zu den herrschenden Verhältnissen.

Das abschreckendste Beispiel für ein Ingenieurunwesen, das sich für allein seligmachend hält, findet man in Goethes Faust II. Der greise (und blinde!) Faust, einst jemand auf der Suche nach der Essenz von Welt und Mensch, betreibt in dem Glauben, so das Höchste seines Daseins zu erreichen, ein gigantisches Landgewinnungsprojekt. Im Weg ist ihm das alte Ehepaar Philemon und Baucis. Fausts Helfershelfer Mephisto macht mit den beiden kurzen Prozess und damit den Weg frei für die totale Ökonomisierung der Naturressourcen.

So fern ist uns diese Geschichte nicht. Sie ist ein Plädoyer dafür, das Gewesene, Natur und Kultur nicht zu versenken, will man sich nicht schuldig machen: an seiner eigenen Existenz und Möglichkeit. Eine Gesellschaft darf nicht nur im Rechnen und Berechnen groß sein, sie muss Verantwortlichkeit lernen. Natur- und Geisteswissenschaften sollten daher ein gemeinsames Interesse haben: den Menschen zu bessern.

© SZ vom 02.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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