Debatte über Wirtschaftsunterricht:Unkritisch und überflüssig

Schülerin löst mit Tweet Diskussion über Schulbildung aus

"Ökonomische Bildung findet auch außerhalb einzelner Fächer statt", sagt Didaktik-Professor Reinhold Hedtke.

(Foto: dpa)

Ökonomisches Wissen ist wichtig, doch dafür ist bereits genug Raum im Unterricht, sagt der Didaktik-Professor Reinhold Hedtke. Ein Einheitsfach Wirtschaft würde vor allem Lobbyinteressen der Wirtschaft dienen.

Von Reinhold Hedtke

Mehr Wirtschaft in der Schule zu fordern fällt leicht, doch was sagen die Fakten? In den Lehrplänen allgemeinbildender Schulen ist das Fach fest verankert, etabliert und vergleichsweise komfortabel aufgestellt. Und das ist gut so. Denn ökonomisches Orientierungswissen gehört ebenso zur Bildung wie ein kritisches Nachdenken über Ökonomie. Dafür braucht man Zeit. Wirtschaft gehört längst zum Pflichtpensum in Fächern wie Politik/Wirtschaft, Sozialkunde, Gemeinschaftskunde oder Politik. Dort wurde der wirtschaftliche Anteil erheblich ausgebaut. Heute entfällt auf Wirtschaftsunterricht meist mindestens so viel Lernzeit wie auf Politik.

Ökonomische Bildung findet auch außerhalb einzelner Fächer statt. Viel Zeit beansprucht die Berufsorientierung: Praktika mit Vor- und Nachbereitung, Berufsberatung und Bewerbungstraining. Weiterer Wirtschaftsstoff kommt hinzu, etwa Betriebsvisiten, Schülerfirmen, Börsenspiele oder Expertenbesuche, besonders aus der Finanzindustrie. Sehr viele Schulen haben Kooperationsverträge mit Unternehmen. Hochgerechnet entsprechen diese zusätzlichen Aktivitäten etwa einem zweistündigen Schulfach über zwei Jahre. Zum Vergleich: Das ist viermal so viel wie das Pensum Politik, das Bayern seinen Gymnasiasten bis zur 10. Klasse zugesteht.

Zur Person

Reinhold Hedtke, 61, ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften und Wirtschaftssoziologie an der Universität Bielefeld. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Frage, wie Wirtschaftsinhalte im Unterricht behandelt werden.

Wer heute ein eigenes Fach Wirtschaft fordert, verkennt die Fakten. Jugendliche wissen über Wirtschaft nicht weniger als über Politik oder Recht. Dennoch fordern Wirtschaftsverbände mehr Zeit für Wirtschaft als für Geschichte, Geografie, Gesellschaft und Politik zusammen. Sie haben jedes Maß verloren. Schon in den letzten 15 Jahren haben Unterricht und Schule eine beispiellose Ökonomisierung erlebt, noch mehr Wirtschaft stärkt eine einseitig ökonomistische Sichtweise und treibt utilitaristisches Denken und Handeln weiter voran. Diese Schieflage bedroht bereits jetzt den Bildungsauftrag der Schulen.

"Schulen müssen mehr leisten, um Jugendliche zu mündigen Menschen zu erziehen", sagt Daniel Senf, Vorsitzender der Wirtschaftsjunioren. Hier finden Sie sein Pro in der Debatte um Wirtschaftsunterricht als einheitliches Pflichtfach in Deutschland.

Politik bleibt dagegen in den Schulen häufig unsichtbar. Die meisten Bundesländer haben kein eigenes Fach dafür. Ihre Stundentafeln zeigen, was zählt: Demokratie rangiert fast überall weit unten. Selbst wenn das Fach Politik genannt wird, kommt Politik meist inhaltlich zu kurz, die knappe Zeit verteilt sich oft auf Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Recht und Medien. Pegida und ihre Ableger haben so ein leichtes Spiel.

Die Gesellschaft gewährleistet die Grundlagen für Wirtschaft und Politik. Deutschland und Europa stehen vor gravierenden gesellschaftlichen Problemen. Das verlangt eine soziologisch fundierte gesellschaftliche Aufklärung: Wie funktionieren Gesellschaften? Was hält sie trotz ihrer Diversität zusammen? Was bedroht den sozialen Zusammenhalt? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Was kann man politisch dafür tun? Die Lehrpläne greifen diese Fragen selten auf, die Schulen entlassen gesellschaftliche Analphabeten.

Zusammenhänge zerfallen

Gesellschaft, Wirtschaft und Politik hängen eng zusammen, zum Beispiel beim Thema Globalisierung und Migration. In der Schule aber zerfallen die Zusammenhänge, wenn Schüler Wirtschaftsunterricht ohne Politik, Politikunterricht ohne Wirtschaft haben und Gesellschaft gänzlich fehlt. Komplexe Verhältnisse verlangen umfassend gebildete Bürger. Viele kleine Schubladenfächer verhindern das, sie verhindern ein umfassendes Verständnis von Problemen, Prozessen und Strukturen.

Den Erwerb von Wirtschaftswissen kann man vielfältig organisieren. Fächer wie Politik/Wirtschaft, Sozialwissenschaften und Politik/Gesellschaft/Wirtschaft zeigen das. Angesichts knapper Schulzeit sind sie Ausdruck der Kompromisse in den Ländern. Keiner kennt die ideale Lösung für die Fächerstruktur, empirische Daten fehlen. Organisation und Inhalte sind und bleiben wissenschaftlich umstritten. Wozu dann ein Bundeseinheitsfach Wirtschaft, wie es Wirtschaftsverbände fordern? Eine Einheitslösung wäre Willkür.

So viel zur Faktenlage. Dennoch bleibt das separate Wirtschaftsfach ein Dauerbrenner in der öffentlichen Debatte. Das ist ein Erfolg der Wirtschafts- und Unternehmerverbände, ihrer Think Tanks und Stiftungen. Sie wollen ihren Einfluss auf die Schulen stärken. Ihre Positionen und Konzepte sollen dort dominieren.

Mit einem Bundesunterrichtsfach verschwände die Vielfalt der Zugänge zu Wirtschaft. Das Einheitsfach soll Einheitsdenken fördern. Kritische Reflexion über Wirtschaft wird so aus dem Unterricht vertrieben. Die politische und mediale Macht der Lobbygruppen wird das garantieren. Sie wollen die Vorherrschaft der Wirtschaft gegenüber Politik und Gesellschaft. Ein Fach Wirtschaft bereitet den Weg dafür. Ein solches Fach zielt nicht auf allgemeine Bildung, sondern auf besondere Interessen. Es ist überflüssig.

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