Niedersachsen will Sitzenbleiben abschaffen:Aus für die unrühmliche Ehrenrunde

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Die Vergabe der Zeugnisse ist für leistungsschwache Schüler mit Angst und Stress verbunden. Die niedersächsische Regierung will Schülern jetzt die größte Furcht nehmen - Sitzenbleiben soll es künftig nicht mehr geben. (Foto: dpa)

Sitzenbleiben ist pädagogisch zweifelhaft und kostet den Staat jedes Jahr Millionen. Soweit das Ergebnis einer Bildungsstudie. Nun will Rot-Grün in Niedersachsen Konsequenzen ziehen und die Ehrenrunden abschaffen. Kritiker warnen.

Von Johann Osel

Die Fremdsprachen hatten dem jungen Christian damals arge Probleme bereitet - er blieb in der zehnten Klasse sitzen, trotz bester Zensuren in Deutsch und Sozialkunde. Er habe das "schon als Gefahr für mein großes Ziel gesehen, das Abitur zu machen und zu studieren", erzählte er später. Trotz der Ehrenrunde ist aus ihm was geworden: Jurist, Abgeordneter, Regierungschef, Bundespräsident. Die Rede ist von Christian Wulff, der sich in der Riege durchgefallener Politiker unter anderem mit Edmund Stoiber befindet.

Jahr für Jahr müssen nach Schätzungen bundesweit 250.000 Schüler Klassen wiederholen. Falls Wulffs eigene Kinder schlechte Noten nach Hause brächten, könnte ihnen das bald erspart bleiben. SPD und Grüne, die in Niedersachsen gerade über die Regierungsbildung verhandeln, wollen das Sitzenbleiben abschaffen. Sie würden damit einem sachten Trend folgen.

Es sei kontraproduktiv, wenn ein Schüler ein ganzes Jahr wiederholen müsse, obwohl er vielleicht nur in einem bestimmten Fach Defizite habe, sagt etwa die grüne Bildungsexpertin Ina Korter. Dies könne durch gezielte Förderung verhindert werden, zudem werde so die persönliche Demütigung des Betroffenen verhindert. Der Blick geht wohl zum Pisa-Spitzenreiter Finnland - dort gibt es kein Sitzenbleiben, allerdings auch ganz andere Förderinstrumente.

"Wir wollen niemanden überrumpeln"

Die Sozialdemokratin Frauke Heiligenstadt, die als Favoritin für das Kultusministerium gilt, betont aber: "Wir wollen niemanden überrumpeln." Der Aufwand für die Reform sei an Grundschulen sicher geringer als an weiterführenden Schulen. Offenbar rechnet man mit Kritik. Von der FDP in Hannover heißt es etwa, Rot-Grün vertrete ein "sozialistisches Menschenbild" und forciere das "Ende des leistungsgerechten Bildungswesens".

Abgeschafft wurde das Sitzenbleiben (bis auf Einzelfälle) in Hamburg, in Rheinland-Pfalz an Grundschulen, Schülern in Bremen drohen erst in der achten Klasse Ehrenrunden, in Berlin nur Gymnasiasten. Andernorts gibt es Modellprojekte.

Die Reformer berufen sich auf eine Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Sitzenbleiben ist demnach "teuer und unwirksam". Dem Staat entstünden Kosten von fast einer Milliarde Euro im Jahr, weil mehr Schüler im System seien, was wiederum mehr Lehrerstellen erfordere. Das Durchfallen führe aber nicht zwingend zu Besserungen: Kinder, die trotz ähnlicher Defizite knapp versetzt werden, entwickelten sich oft besser.

Ohne den Warnschuss, so fürchten dagegen viele Lehrer, entfalle das zentrale Sanktionsmittel, die Schüler würden undisziplinierter. Der Chef des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, hat einmal von "pädagogischem Unsinn" gesprochen: "Eine Abschaffung des Sitzenbleibens käme einem Recht auf Wohlfühlschule mit Abitur-Vollkasko-Anspruch gleich."

© SZ vom 05.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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