Historische Reisen:In den Fängen Bonapartes

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Joseph Deifel aus Neuessing war einer der 35 000 bayerischen Soldaten, die mit Napoleon nach Russland zogen. Seine Erlebnisse schrieb er in ein Tagebuch, das sein Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßneffe bis heute aufbewahrt

Von Hans Holzhaider

Seine Mutter hatte es im Kleiderschrank verwahrt, in ein Bettlaken eingewickelt, aber Willi Koller, Schuhmachermeister a.D. in Essing im Altmühltal, hat eine schöne, mit blauem Samt gefütterte Leinenkassette anfertigen lassen, und darin liegt nun sein Schatz: das Tagebuch seines Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßonkels Joseph Deifel. Ein in schwarze Pappe gebundenes Heft; man sieht ihm an, dass es viel mitgemacht hat. Der Rücken ist teilweise abgerissen, und in der rechten unteren Ecke ist der Einband kreisförmig abgerieben: da, wohin Joseph Deifel, Soldat beim 5. Linieninfanterieregiment der königlich bayerischen Armee, immer seinen Daumen zum Aufblättern legte. "Er hat es wirklich mit sich im Tornister getragen", sagt Willi Koller, und sein Finger wandert die Zeilen entlang auf einer der ersten, mit der etwas ungelenken Schrift seines Vorfahren bedeckten Seiten: "Wird sich niemand denken, daß ich dieß Buch mit mir getragen habe ... ich hab es oft auf den Gewehrkolben mit Bleystift geschrieben dann auf dass Paphier wenn ich Zeit habe ...".

Joseph Deifel war einer der etwa 35 000 bayerischen Soldaten, die anno 1812 mit Napoleon Bonaparte nach Russland ziehen mussten. 35 000 zogen aus, nicht einmal 3000 kehrten wieder zurück. Die anderen waren zusammengeschossen worden auf dem Schlachtfeld von Polozk, verhungert, erfroren, an Erschöpfung oder am Wundbrand gestorben, elend verreckt auf dem katastrophalen Rückzug der Grande Armée im russischen Winter.

Am 14. November 1790 wurde Joseph Deifel geboren, in demselben kleinen Haus in Neuessing, in dem heute sein später Nachfahre Willi Koller mit seiner Frau lebt. Dass Joseph Deifel so gut schreiben und lesen gelernt hat, ist ein kleines Wunder: "In die Schule komm ich sehr wenig, denn als klein mußte ich als der Ältere die kleinen besorgen und dem Vater das Essen tragen in die Fabrik Nußhausen, welche 3/4 Stunden von dort gelegen." Der Vater war Zrinner, also Schmelzer in der Eisengießerei in Nußhausen.

Im Februar 1809, Joseph Deifel ist 18, kommt der Krieg nach Bayern. Er muss sich beim Königlichen Landgericht in Straubing stellen; das 5. Infanterieregiment, dem er zugeteilt wird, gehört zur Division unter dem Befehl des Generals Deroy. Am 10. April marschiert die österreichische Armee in Bayern ein, binnen zwei Wochen kommt es zu einer Serie von Schlachten: Hausen, Abensberg, Landshut, Eggmühl, Regensburg. "Von Abendsberg bis Regensburg eine breite Streke mit Leichen übersät", schreibt Deifel, "es mußte jede Gemeinde Leute herbeyschafen, damit die Leichen begraben wurden." Kaum ist der Feldzug beendet, werden die Bayern nach Tirol kommandiert: "Eilmarsch auf Eilmarsch, Tag und Nacht, Zik Zak, Biwak." Joseph Deifel hat, wie sich noch zeigen wird, ein Faible für das Reimen.

"Der Weg war mit Leichen bezeichnet", schrieb Joseph Deifel in sein Tagebuch, das sein Nachfahre Willi Koller bis heute aufbewahrt. Ein unbekannter Maler hat die Schreckensszene festgehalten. (Foto: Bernhard Megele)

14 Monate kämpft Deifel in Tirol. Als die Soldaten, zurück in Bayern, ihren ausstehenden Sold einfordern, "heißt es zum ersten Mal, es sei kein Geld da. Als noch eine Meldung geschah, heißt es: Wer sich untersteht, zum dritten Mal ein Meldung zu machen, der bekommt 25 auf das Hinterquartier". Schon jetzt hat Joseph Deifel die Schnauze voll vom Krieg: "Nur alles, nur kein Krieg, der wird schlecht belohnt für des Armen Blut und Gut." Noch weiß Joseph Deifel nicht, dass es jetzt erst richtig los geht mit dem Krieg.

Napoleon ist entschlossen, nach dem Sieg über Preußen auch das Zarenreich, die letzte von Frankreich unabhängige Großmacht auf dem Kontinent, zu erobern. Napoleon hat den bayerischen Kurfürsten zum König gemacht, jetzt muss der Preis bezahlt werden. Am 27. Januar 1812 erreicht der Mobilmachungsbefehl Max I. Joseph. Etwa 35 000 Mann müssen gestellt werden, einer von ihnen ist Joseph Deifel. Aber Deifel liegt in diesem Winter mit schwerem Fieber im Bett, vielleicht rettet ihm das das Leben. Als er sich am 21. März bei seinem Regiment in Nürnberg meldet, ist das Hauptkontingent schon abmarschiert; Deifel marschiert mit dem Tross. Penibel notiert er die Tagesetappen: Bayreuth, Hof, Plauen, Zwickau, Chemnitz, Meißen, dann durch Schlesien und Polen. Schon dort bekommt die Truppe einen Vorgeschmack von dem, was sie später erleiden wird. Bei Pułtusk, 70 Kilometer nördlich von Warschau, notiert Deifel: "Großes Elend. Es wird kalt in der Nacht und wirft Schnee, die Pferd stehen im Koth bis in den Bauch 2 Nächte; mehr als die Hälfte sind krepiert."

Bei Grodno überqueren die Bayern den Njemen (Memel), den russischen Grenzfluss. Dort erfahren sie, dass das fünfte bayerische Regiment inzwischen bei Polozk steht, an der Straße nach St. Petersburg. Dort kommt es am 17. August zur ersten Schlacht mit bayerischer Beteiligung. Es ist ein teuer erkaufter Sieg, an die 6000 Mann fallen auf französisch-bayerischer Seite, unter ihnen der General Deroy.

Der Tross, der eigentlich die Kameraden mit Ausrüstung, Uniformen und Munition versorgen soll, bleibt in Grodno stecken, "aus Mangel der Pferde und der schlechten Witterung. Alles ist trostlos und verzagt. Es geht uns so schlecht, dahs es nicht zu beschreiben ist." Als Deifels Einheit endlich, Wochen später, Wilna erreicht, strömen schon die ersten ausgehungerten und halb erfrorenen Soldaten zurück. "Endlich kommen die Überbleibsel der Bairischen Armee", schreibt Deifel in sein Tagebuch, "36 000 waren sie an der Zahl gewesen hinein, jetzt streichen wir einen Ring: 3600, die meisten ohne Gewehr, die Russen hintendrein."

In Wilna herrscht das Chaos: Tausende Verwundete, Sterbende, um die sich keiner kümmern kann, jeder sieht nur noch zu, dass er seine eigene Haut rettet. "Der innerliche Krieg wüthet mehr als der äußerliche, da wird gezankt und geschlagen, die Volksmassa und besonders die Juden mischen sich darunter, es wird geschlagen auf Mord und Tod. Die Russen brachen herein, und wir alle mußten weichen und uns auf den flüchtigen Returat begeben."

Das Elend des Rückzugs spottet jeder Beschreibung. "Alle Herzen waren vor lauter Elend versteinert", schreibt Deifel, "alle Menschenfreundlichkeit hatte unter uns aufgehört. Der Weg war mit Leichen bezeichnet. Geht man in eine Hütte hinein, traf man tote Soldaten aller Nationen, denn aus Hunger, Kälte und Mattigkeit schüren sie Feuer und kochen Luderfleisch, aber sie erloschen mit dem Feuer. Einige wollen gesehen haben, dahs sich einige selbst angenagt sollen haben."

Einmal ist Joseph Deifel selbst nur eine Haaresbreite vom Tod entfernt, und das bei einer sehr banalen Gelegenheit: "Ich gehe von der Straße ab und hab was Nöthiges zu tun. Ich entblöße mich, es ist sehr kalt. Als ich aber aufstehen will, kann ich nicht. Niemand hinter noch vorder mir, keiner, der da helfen kann." Er hat sich schon in sein Schicksal ergeben, "da höre ich leise einen Schlitten fahren; ich rufe mit erlöschter Stimme: ,Kammerathen, helft mir doch'." Und sie hören ihn, und retten ihn, "und es war Josef Heinerich, ein alter Soldat vom Landgericht Dachau, und noch etliche Kammerathen von der Kompagnie."

Als Deifel mit seinen Kameraden endlich wieder den Njemen erreicht, ist der Fluss noch nicht ganz zugefroren, sie kommen nicht hinüber. Sie finden Quartier im Haus eines Juden, und dort hat er ein seltsames Erlebnis: "Als es bereits Tag wurde, kommt ein fremder Mann zur Tür herein, das Haupt gesenkt, leise schlich er zum Feuer. Der Mainzer Franzos da sieht diesem Fremden über meine Schulter stets ins Angesicht. Nur 5 - 6 Minuten, dann geht er wieder ab, ohne etwas zu reden. Aber kaum hat er die Tür geschlossen, so schrie der Kürassier: ,Kamerathen, Brüder! Der Kaiser Naboleon, der Naboleon ist der gewesen, der da stand am Feuer."

SZ-Karte (Foto: gr)

Josef Deifel, in all seinem Elend, grübelt lange über diese Begegnung nach, und schließlich fasst er sein Erlebnis in Reime:

Der große Mann, der große Mann,

Kommt einzig und ganz klein zurück,

Vereitelt war sein ganzes Glück,

Wo ist sein Blan, wo ist sein Blan?

Ganz allgemein,

Tritt er zu uns zum Feuer her,

Die Kält ist ihm gefallen schwer,

Macht ihn gemein, mit uns gemein.

Joseph Deifels Abenteuer sind noch lange nicht zu Ende, als er Russland verlässt. Er kommt nach Thorn an der Weichsel, erlebt die Belagerung, Beschießung und Kapitulation der Festung, schleppt sich zurück quer durch Polen, durch Schlesien, bis nach Reichenbach im Eulengebirge. Nur noch wenige Meilen wären es bis zur böhmischen Grenze, fast schon zu Hause, da wird er von einem Trupp Kosaken gefangen genommen. Es ist der 1. Juli 1813. Es geht wieder zurück, in endlosen Fußmärschen, über Warschau, Białystok nach Minsk, später nach Kiew. Erst im Januar 1814 entlassen die Russen ihre Gefangenen. Am 13. März überschreitet Joseph Deifel bei Hof die bayerische Grenze. "Wir wußten aber nichts, bis wir zu der Gränzsäule kommen. Da war der Wirt vom nächsten Ort bestellt, und Tische waren besetzt mit Nationalgetränk und einigen kalten Speisen. Da wird aus vollem Hals und gerührtem Herzen freidig gerufen: ,Lebe hoch die ganze Bairische Nation'."

© SZ vom 15.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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