Gerichtsgutachter in Aschaffenburg:Wenn der Psychiater zum Psychiater muss

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In Aschaffenburg wollte ein deutschlandweit bekannter Gerichtsgutachter ein fremdes Kind in sein Auto zerren. Seitdem ist er krankgeschrieben. Die Justiz steht nun vor der Frage, ob die Strafprozesse, an denen er beteiligt war, wieder aufgerollt werden müssen.

Von Olaf Przybilla

Was sind psychiatrische Gutachten wert, die von einem Psychiater erstellt wurden, der nun selbst psychiatrisch begutachtet werden muss? Ein rätselhafter Fall aus Aschaffenburg wirft diese Frage auf. Dort ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen versuchten Kindesentzugs gegen einen Psychiater, der bayernweit zahlreiche Gutachten in großen Prozessen angefertigt hat. Der renommierte und häufig in Medien präsente Arzt soll im November versucht haben, ein ihm zuvor nicht bekanntes Kind an sich zu nehmen. Er konnte von den Großeltern des Kindes davon abgehalten werden, wofür es laut Staatsanwaltschaft mehrere Augenzeugen gibt. Seither ist der Gutachter krankgeschrieben. Und muss sich nun selbst einem psychiatrischen Gutachter stellen.

Hubert Prinz, Anwalt aus Bamberg, hat erst über einen Umweg von dem Fall erfahren. Seither ist er alarmiert: Denn er hatte in einem Prozess um ein Kapitalverbrechen einen Mandanten vertreten, der von dem nun krankgeschriebenen Psychiater begutachtet wurde. Der Angeklagte wurde damals zu einer hohen Haftstrafe verurteilt. Der Psychiater hatte ihm eine schwere psychische Beeinträchtigung attestiert, war aber zum Gesamturteil gekommen, der Angeklagte sei voll schuldfähig. Die Stellungnahme des Gutachters dürfte maßgeblich zum Urteil beigetragen haben.

Der Ruf ist beschädigt

Er werde sich nun erneut die Akten kommen lassen, sagt Prinz. Eines aber zeichne sich schon ab: "Wir werden aller Voraussicht nach einen Wiederaufnahmeantrag stellen." Der Gutachter habe damals "einen einwandfreien, über jeden Zweifel erhabenen Ruf" genossen. Dies stelle sich nun möglicherweise völlig anders dar.

Wie kann es sein, dass ein Anwalt erst über einen Umweg davon erfährt, dass ein maßgeblicher Gutachter in einem Kapitalprozess in Zweifel gezogen werden kann? Wohl so: Der Fall ist zum jetzigen Zeitpunkt äußerst heikel. Denn ob gegen den Abteilungsleiter einer psychiatrischen Klinik Anklage erhoben wird, ist offen. Das wird nun maßgeblich vom Gutachten abhängen, das die Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben hat. Und in dem festgestellt werden soll, ob und wann der Arzt möglicherweise psychisch erkrankt ist.

Der Psychiater hatte nach dem Vorfall in einem Ort bei Aschaffenburg von einem "Missverständnis" gesprochen. Nachdem er nicht davon ablassen wollte, ein ihm unbekanntes Kind in einem Auto mitzunehmen, hatten dessen Großeltern die Polizei zu Hilfe gerufen. Der Psychiater soll davon gesprochen haben, er habe das Kind "retten" wollen. Der Arzt befindet sich auf freiem Fuß, hat aber über seine Verteidigerin erklären lassen, er werde bis auf weiteres nicht mehr als Sachverständiger tätig werden. An seiner Klinik ist er seit Monaten krankgeschrieben. "Wir sind bestürzt über die Sache", sagt ein Kollege.

Die Behörden sind informiert

Wie gehen Bayerns Justizbehörden nun damit um? Man nehme es sehr erst, wenn an der "persönlichen Eignung eines Sachverständigen Zweifel angemeldet werden", sagt Lothar Schmitt, Leitender Oberstaatsanwalt in Aschaffenburg. Weshalb der Justizminister mit der Causa längst befasst ist. Winfried Bausback (CSU), selbst aus Aschaffenburg, wurde schon im November, kurz nach dem Vorfall, unterrichtet. Ein Ministeriumssprecher erklärt, alle "ärztlichen Aufsichts- und Standesorganisationen" seien informiert. Auch habe man "sämtliche Generalstaatsanwaltschaften und Oberlandesgerichtsbezirke im Freistaat abgefragt", um zu erfahren, in welchen Verfahren der Gutachter seit 2012 tätig war. Aber so schnell geht das offenbar nicht. Ein Ergebnis liegt nicht vor.

Aber selbst wenn das irgendwann geklärt ist: Er wüsste nicht, sagt Anwalt Prinz, wie er offiziell an eine Information über das Verhalten des Gutachters hätte kommen sollen. Wichtig wäre das für Anwälte aber durchaus. Denn selbst wenn am Ende keine Anklage gegen den Arzt erhoben werden sollte, wäre dessen dubioses Verhalten trotzdem ein starkes Argument, um seine Expertise grundsätzlich in Zweifel zu ziehen. Vor allem dann, wenn es in den Strafverfahren etwa um Kindesentzug oder Kindesmisshandlung ging.

Eine unanfechtbare Koryphäe?

Heikel ist die Angelegenheit auch in anderer Hinsicht. Denn bei dem Gutachter handelt es sich um einen bekannten Vertreter seiner Zunft. Er hat über die Qualität psychiatrischer Expertise geforscht und ist in Medien als Fachmann für Prognosegutachten aufgetreten. Eine seiner Arbeiten über eine Sonderform der Kindesmisshandlung sorgte für besondere Aufmerksamkeit, bundesweit wurde groß darüber berichtet. "In Fachkreisen galt er als unanfechtbare Koryphäe", sagt ein Anwalt.

Wird es nun eine Reihe von Wiederaufnahmeverfahren geben? Thomas Goes, Vorsitzender des Anwaltvereins Aschaffenburg, glaubt das eher nicht. In laufenden Verfahren wäre das "offenbar normabweichende" Verhalten des Gutachters zweifellos ein Anlass, neue Beweisanträge zu stellen. Dass nun aber zahlreiche abgeschlossene Verfahren wieder aufgerollt werden müssen, hält er für unwahrscheinlich.

Würde sich herausstellen, dass der Gutachter schon lange Zeit grundsätzlich "in seiner Geschäftsfähigkeit beeinträchtigt" war, kämen Wiederaufnahmeverfahren durchaus in Frage, glaubt dagegen Werner Leitner, Vorsitzender des Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im deutschen Anwaltsverein: gerade in einschlägigen Verfahren, die mit Straftaten an Kindern zu tun hatten.

© SZ vom 27.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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