Diskussion um fränkische Kleinstadt:Streit in der Schneewittchenkommune

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Um sie dreht sich der Streit: Schneewittchen. (Foto: Imago Stock&People)

Der Wald! Die Berge! Es ist glasklar, dass Schneewittchen in Lohr am Main gelebt haben muss, meint ein örtlicher Hobby-Forscher. Das ließe sich hervorragend vermarkten - wenn da nur nicht der Ärger mit der Kunst wäre.

Von Olaf Przybilla, Lohr am Main

Zunächst muss natürlich die Frage geklärt werden, warum eigentlich eine unterfränkische Kleinstadt sich selbst zur Schneewittchenkommune auserkoren hat. Wer auf der A 3 fährt, etwa auf Höhe Marktheidenfeld, kommt seit einiger Zeit an einem dieser braunen Tourismusschilder vorbei. Aber während man andernorts ungefähr ahnt, um was es da gehen könnte, wenn auf historische Innenstädte oder herausragende Naturdenkmäler hingewiesen wird, ist das bei der "Schneewittchenstadt Lohr" vermutlich den wenigsten klar. Bieten sie da vergiftete Äpfel an? Sind etwa die Bewohner klein an Wuchs? Bauen sie gläserne Särge im Spessart?

Die Lohrer wussten selbst lange nicht, dass sie aus Schneewittchencity stammen, wo es nun, eben jenes Schneewittchens wegen, einigen Ärger gibt. Lohr am Main? Das ist ein wirtschaftlich wohlhabendes Industriestädtchen im Norden des Kreises Main-Spessart, so hätte man das früher erklärt. Ein süffiges Bier stammt ursprünglich von dort, die Keiler-Weiße, und weil Spessart und Wildschwein ungefähr eins sind, darf man dieses Bier ruhig so nennen, wie es ist: saugut. Schneewittchen? Keine Ahnung.

Glas, Eisen und eine schöne Frau

Es ist so: Ein örtlicher Apotheker hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Beweis zu führen, dass die Wurzeln von Schneewittchen im Spessart liegen müssen. Noch in der Zeit vor der Wende stellte er erste Untersuchungen an, es fanden sich dann allerlei Stammtischfreunde, die ihn forschend unterstützten und inzwischen sind sie sich in Lohr ihrer Sache ziemlich sicher. Ein Sarg aus Glas? War für die Männer aus den Glashütten der Region ein Leichtes. Eiserne Pantoffeln? Die Eisenhämmer im Spessart können das. Sieben Zwerge, die nach Erz hacken und graben? In den Bergwerken hinter den sieben Spessartbergen arbeiteten auch Kinder. Eine märchenhaft schöne Frau soll es selbstredend auch gegeben haben in Lohr, man lebt schließlich in Franken, und eine irgendwie herrschsüchtige Adelige auch. Und über einen, nun ja, sprechenden Spiegel verfügt der Stadtfundus ebenfalls: Auf dem Produkt einer örtlichen Spiegelmanufaktur findet sich ein Sinnspruch in der rechten oberen Ecke.

Schneewittchen, fanden die Lohrer nach dieser Bestandsaufnahme, muss zwangsläufig aus Lohr kommen, die "wissenschaftlich-fabulogische" Beweislage lasse da mal gar keinen Zweifel zu. Also bietet man in der Stadt das volle Programm: Schneewittchenkuchen, Schneewittchenkabinett, Schneewittchenpralinés, Schneewittchenarbeitskreis, Ehrenschneewittchen (Verona Pooth). Spleenig? Schon möglich, aber im fränkischen Schwarzenbach an der Saale halten sie sich ja auch fürs deutsche Entenhausen. Ist eben so.

Weil das Schöne aber immer auch Anfeindungen ausgesetzt ist, wer wüsste das besser als Schneewittchen, herrscht dieser Tage Zwietracht in Lohr. Dieser Teil der Geschichte ist der deutlich gängigere, es gibt mal wieder einen Streit über Stadtkunst. Weil Lohr jenseits von Pralinés, Verona Pooth und Autobahnschildern auch Anspruchsvolles über Grimms und das eigene Märchen bieten wollte, lobte die Stadt, wie man das angeblich so macht, einen Kunstpreis aus. Gewonnen hat ein Modell des Bildhauers Peter Wittstadt. Und wenn die nun lodernde Des-wolle-mer-ned-Debatte etwas Gutes haben sollte, dann vielleicht dies: Sie mag anderen Orten als Warnung dienen, nicht bar jedes Gedankens Kunst und Tourismus miteinander zu verbinden. Was sie in Lohr getan haben.

Schlossgespenst oder Krümelmonster

Denn eigentlich liegen die Dinge klar im Spessart: Es gibt einen Beschluss der Jury und nach sechs Monaten auch ein Werk des Künstlers nach der Vorlage seines Siegermodells. Aber es gibt nun auch die Internetforen und Leserbriefspalten, in denen von missratenem Metallständer, von Schlossgespenst und Krümelmonster die Rede ist. Auch von der Blamage, die, horribile dictu, Touristen empfinden könnten, müssten sie dieses Schneewittchens mit "Stummelärmchen und aus dem Kopf wachsenden Spaghetti" ansichtig werden. Und natürlich davon, was man mit 110 000 Euro so alles machen könnte im schönen Lohr: ein Toilettenhäuschen bauen und einen Rollatorenweg.

Eine Stadträtin der Freien Wähler fürchtet sogar Schreikrämpfe von Betrachtern, und so hat sich eine Debatte entfacht, wie das bestellte Schneewittchen noch zu verhindern sein könnte: Abschieben zur Documenta nach Kassel (auch so eine "Schneewittchenstadt")? Das Modell von einem anderen Anbieter billiger nachbauen lassen, um es dann besseren Gewissens an der Stadtperipherie verstecken zu können?

Der Künstler Wittstadt hört sich nicht so an, als wolle er mitdiskutieren: "Auf nichts werde ich mich einlassen." Und auch Bürgermeister Mario Paul, der für die Ausschreibung 2013 nicht verantwortlich war, plädiert für "Fairness": Man habe Kunst bestellt und Kunst bekommen. Am Montag beschäftigte die Sache den Stadtrat, einige Räte hätten gerne geprüft, ob die Kunst mit den Mitteln des Haushaltsrechts zu verhindern ist. Vorerst will man mal die Stellungnahme des Landratsamts abwarten.

© SZ vom 04.11.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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