Aufklärung:Schule ohne Tabus

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Total normal: Gleichgeschlechtliche Paare sind fester Bestandteil unserer Gesellschaft - und doch werden sie noch immer angefeindet. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Am Erdinger Anne-Frank-Gymnasium sprechen Wiebke und Eva - aus eigener Erfahrung - mit den Jugendlichen über Toleranz und Offenheit gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensweisen und Transidentität. Die Schüler sind sehr zurückhaltend. Typisch, sagen die Frauen

Von Anna Günther, Erding

"Da ist Wiebke, hey, Wiebke!" Der Ruf durchbricht das Stimmengewirr im Flur des Anne-Frank-Gymnasiums in Erding. Es ist Pause, Schüler laufen durch die Gänge, plaudern und warten vor dem Lehrerzimmer. Wiebke ist 72, hat kinnlanges weißes Haar, trägt einen Weidenkorb unterm Arm, Seidenschal und Slipper. Sie ist mit ihrer Kollegin Eva in der Schule, um über Klischees zu sprechen, über die Normalität anderer Lebensentwürfe. Wiebke war 59 Jahre lang ein Mann.

Wiebke und Eva engagieren sich beim "Aufklärungsprojekt München", einem Verein, der sich seit 23 Jahren für Toleranz und Offenheit gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensweisen und Transidentität einsetzt. Sie besuchen Schulen in Südbayern und sprechen mit Jugendlichen unter anderem darüber, wie es ist, schwul, lesbisch oder transident zu sein, ob Klischees wie "Schwuchtel" oder "Kampflesben" stimmen, wie die Rollenverteilung bei gleichgeschlechtlichen Paaren ist - und wie es sich anfühlt, angefeindet zu werden. Die Nachnamen seien für ihre Arbeit hinderlich, sagen beide. Man duzt sich, auch um den Schülern auf Augenhöhe zu begegnen und so Hemmungen abzubauen. Lehrer müssen während der Doppelstunde draußen bleiben. Was im Klassenzimmer besprochen wird, dringt nicht nach außen.

"Mein Name ist Wiebke, und ich heiße wirklich so", sagt die Sozialpädagogin im Stuhlkreis. Die Gesichter der 24 Neuntklässler spiegeln Staunen, Neugier und Scheu. Wäre sie als Mädchen geboren, hätte ihr Vater sie so genannt, sagt Wiebke. Dann kam der Sohn und war fast sechs Jahrzehnte lang "fürchterlich unglücklich". Als sie es ihrer Ex-Frau und ihren beiden Kindern endlich sagte, sei "ein tonnenschweres Gewicht abgefallen, ich musste keine Fassade mehr aufbauen". Mittlerweile habe die Familie das auch akzeptiert. Auch Eva, die Psychologin, hatte es nicht leicht nach dem Coming-out. Fast 15 Jahre habe es gedauert, bis ihre Eltern akzeptiert haben, dass die Tochter Frauen liebt. Die 42-Jährige hat sich im Herbst mit ihrer Frau "verpartnert", ihre Eltern hatten im Standesamt Tränen in den Augen.

"Ich mache das auch, damit Schulen tolerantere Orte werden und Kinder, die ich vielleicht haben werde, nicht gemobbt werden", sagt Eva. Und die Schüler sollten verstehen, dass sie weder ansteckend sind noch beißen, sondern so geboren sind, fügt Wiebke resolut hinzu.

Laut einer Studie des Lesben- und Schwulenverbands Berlin-Brandenburg ist jeder zweite Schüler Homosexuellen gegenüber negativ eingestellt. Dabei sind Schätzungen zufolge weltweit zehn Prozent aller Menschen schwul, lesbisch oder transident. Am Erdinger Gymnasium wären das dann 120 von 1200 Schülern. Eva zieht die Hälfte ab, weil viele in der Pubertät oder erst später spürten, dass sie anders sind als ihre Mitschüler. "Das sind etwa 60 Leute, kennt ihr denn Schwule oder Lesben hier an der Schule?", fragt sie. Schweigen, betretene Gesichter, Schulterzucken. Dass viele dieser 60 sich natürlich nicht trauen, offen zu ihrer Sexualität zu stehen, wenn "schwul" und "lesbisch" als Schimpfwort oder Hänselei benutzt wird, können die 15- und 16-Jährigen sich allerdings gut vorstellen. Dass es unangenehm ist, alleine oder als kleine Gruppe der Masse gegenüberzustehen, erfahren die Buben und Mädchen spielerisch. Sie sollen sich als Antwort im Raum positionieren, eine Wand ist "ja", die andere "nein": Habt ihr schon mal geraucht? Helft ihr im Haushalt mit? Braucht ein Kind Mutter und Vater, um glücklich aufzuwachsen? Habt ihr Lesben oder Schwule im Freundeskreis? Vier Mädchen stehen ihrer Klasse gegenüber.

Das zieht sich durch: Mädchen gelten mit 15 als reifer, auch in der Erdinger Klasse scheint das so zu sein. Einzelne Mädchen machen mit, fragen nach Outing, Treffpunkten der Szene in München, Anfeindungen auf der Straße oder der Gleichstellung vor dem Gesetz. Nur ein Bub fragt, ob Reisen in manche Länder für transidente oder homosexuelle Menschen gefährlich sind. Zwei seiner Klassenkameraden trauen sich erst nach der Stunde nach dem operativen Umwandlungsprozess von Transfrauen und -männern zu fragen.

Die Hemmschwelle ist hoch, explizite Fragen stellt niemand. Obwohl Eva und Wiebke die Jugendlichen immer wieder dazu auffordern und beide sehr offen sind. "Das ist leider typisch für Gymnasien, die Schüler sind viel wohlerzogener, politisch korrekt, zu höflich, zu kopfig", sagt Eva. Selbst wenn jemand homophobe Ansichten habe, kämen die im Gymnasium selten raus. Ganz anders sei das in den Real- und Mittelschulen. Diese Schüler seien direkter, auch mal homophob, sagt Eva, aber eben darauf könne sie ja dann reagieren. 2700 Schüler erreichte das Aufklärungsprojekt in diesem Schuljahr. Am Anne-Frank-Gymnasium ist der Besuch seit acht Jahren Standard in den neunten Klassen, dann steht "persönliche und soziale Aspekte der Homosexualität" im Lehrplan. Toleranz gehört zum Schulprofil. Seit 15 Jahren nennt sich das Gymnasium "Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage". Diverse Projekte wie Aktionen mit einer Förderschule oder behinderten Kindern sollen die Gymnasiasten sensibilisieren.

Einige Tage nach dem Besuch hat Eva die Feedbackbögen der Klasse ausgewertet. Viele Schüler bereuten, nicht mehr nachgefragt zu haben, sagt sie.

© SZ vom 29.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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