Schnellbahnnetz in Europa:Über alle Grenzen hinweg

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Die neue Gemeinsamkeit der Bahnen: deutsche Lokführer im TGV, französische Schaffner im ICE und sieben Bahngesellschaften, die einen europaweiten Verbund gründen.

Von Michael Kläsgen

Mit der Romantik vom Bahnfahren hatte der Rekord nicht viel zu tun. Es ging nicht vorbei an Seen, Flüssen oder schönen Berglandschaften. Trotzdem zog der train à grande vitesse (TGV) viele in seinen Bann, als er am vergangenen Dienstag mit 574,8 Kilometern pro Stunde einen neuen Geschwindigkeitsrekord aufstellte. "Mich fasziniert zu sehen, welche Faszination Bahnfahren auch heute noch ausüben kann", sagte nicht etwa die Sprecherin des französischen TGV-Herstellers Alstom, sondern die des konkurrierenden Siemens-Konzerns. Auch die Deutsche Bahn äußerte sich lobend. Von dem Rekord könne die gesamte Bahn-Industrie profitieren, hieß es dort. Er helfe, dass Zugfahren nicht mehr als etwas Überholtes und Altmodisches gelte, sondern als modern. Im Windschatten des TGV wollen die deutschen Bahn-Hersteller und -Betreiber selber aufholen und Ansehen gutmachen.

Könnte eine schöne Alternative zum europäischen Autobahnnetz werden: das Schnellbahnnetz der Züge. (Foto: SZ-Grafik: Michael Manka (Quelle: Europäische Kommission/ Foto: AFP, SZ-Archiv))

Dabei war die Aktion, wie Alstom zugibt, eine reine Werbemaßnahme für den französischen Hersteller. Er wollte aller Welt zeigen, wie ausgereift seine Technik ist. Wobei das etwas geflunkert war. Denn erstmals verwendete Alstom bei dem Rekord eine Technik, bei der neben der Lok zusätzliche Triebwerke unter den Waggons angebracht waren, die den Zug anschoben. Solche Triebzüge verwendet Siemens seit Jahren. Alstom setzte hingegen auf große, starke Loks und entwickelte statt neuer Technik doppelstöckige Züge.

Auch die deutsche Bahn lobte die TGV-Rekordfahrt

Wenn in den kommenden Jahren von China bis Argentinien viele Länder Aufträge für schnelle Züge vergeben, dann geht es jedoch um Milliarden. Und dann entscheidet allem voran die Technik. Der Rekord war deswegen nicht nur ein 30 Millionen Euro teures Instrument, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Er war auch der Startschuss zur Aufholjagd für Alstom. Siemens beansprucht nämlich für sich, mit dem Velaro, einer Weiterentwicklung des ICE 3, in Kürze in Spanien den schnellsten kommerziell betriebenen Zug in Betrieb zu nehmen. Trotzdem hat in den Augen vieler Betrachter Alstom seit dem Rekord die Nase vorn. Dabei hatte das Unternehmen sowohl den Zug als auch die Trasse für den Rekord aufwendig präpariert.

Ohnehin ist klar, dass es auf absehbare Zeit keinen Zug geben wird, der Passagiere im Alltag mit Tempo 575 befördert. Ökonomisch und ökologisch wäre das nicht sinnvoll. Der Stromverbrauch steigt bei dieser Geschwindigkeit in irrationale Höhen, der Verschleiß von Schienen und Rädern ist enorm, und es dröhnt, als fliege ein Düsenjet. Für Ökologen hören Züge schon von einem Tempo von mehr als 200 Kilometern pro Stunde an auf, gegenüber dem Flugzeug oder Auto umweltfreundlicher zu sein. Hersteller und Betreiber freilich sehen diesen Punkt noch nicht einmal bei 300 km/h gekommen.

300 Kilometer pro Stunde sind auch die Schwelle für die neue Generation von Zügen. Mit 320 km/h werden der TGV und der ICE 3 vom 10. Juni an erstmals gemeinsam auf der neuen Strecke zwischen Deutschland und Frankreich verkehren - dort, wo auch der Rekord aufgestellt wurde. Damit verkürzt sich die Fahrtzeit zwischen Paris und Stuttgart beziehungsweise Paris und Frankfurt am Main auf unter vier Stunden. Eine Zeit, bei der Reisende schon mal die Bahn anstelle des Flugzeugs wählen. Für den Zugverkehr in Europa entscheidender aber ist, dass erstmals ein ICE in Frankreich, im Land der Erfinder der Hochgeschwindigkeitszüge, fahren wird.

Bislang schirmte Frankreich seinen Markt für Nah- und Hochgeschwindigkeitszüge weitgehend ab und exportierte seine Zugtechnik erfolgreich ins Ausland, Siemens machte es genauso. Neben einem japanischen Konsortium um Hitachi teilen sich Alstom und Siemens den Weltmarkt für Hochgeschwindigkeitszüge untereinander auf und dominieren insbesondere in Europa. Während die Nationalität des Herstellers bei U-Bahnen oder Nahverkehrszügen unerheblich ist, gelten Hochgeschwindigkeitszüge noch immer als nationale Vorzeigeprodukte.

Sieben Bahngesellschaften sind dabei, einen Verbund zu gründen

Umso bemerkenswerter ist deswegen, was sich auf der neuen TGV-Strecke von Deutschland nach Frankreich tut. Nicht nur werden die jeweiligen Prestigezüge bis nach München beziehungsweise Paris fahren. Deutsche Bahn und SNCF gründen auch eine gemeinsame Gesellschaft und tauschen ihr Personal aus. Deutsche Lokführer fahren demnächst TGV und ihre französischen Kollegen ICE, und auch die Schaffner mischen sich. Nach 20 Jahren der mühevollen Annäherung erreicht der grenzüberschreitende Zugverkehr in Europa damit eine neue Dimension.

Während sich die Hersteller eine Materialschlacht liefern, drängen die Betreiber also auf Vereinheitlichung und kooperieren. Sieben Bahngesellschaften sind gerade dabei, einen Verbund zu gründen, um über die Grenzen hinweg dem Flugverkehr und dem Auto Paroli bieten zu können. Die Deutsche Bahn und die französischen SNCF sind mit von der Partie. Sie wünschen sich Verhältnisse wie in der Flugindustrie. Alstom und Siemens sollen zu Herstellern wie Airbus und Boeing werden, die standardisierte Produkte fertigen, bei denen sich die Betreiber nur noch um die Inneneinrichtung kümmern müssen. Dann könnte die SNCF Velaros ordern und die Deutsche Bahn neue TGV.

© SZ vom 10.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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