Zum 100. Geburtstag von Thure von Uexküll:Der Menschenarzt

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Er hat keine neue Krankheit beschrieben, keine Gene isoliert und keinen Nobelpreis bekommen - dennoch verdanken wir Thure von Uexküll mehr als vielen anderen Medizinern.

Werner Bartens

Es gibt Menschen, die mehr Spuren hinterlassen als andere. Unter den Ärzten sind das nicht immer jene, die große Entdeckungen gemacht haben. Thure von Uexküll, der am 15. März 1908 in Heidelberg geboren wurde, hat keine neue Krankheit beschrieben, keine Gene isoliert und keinen Nobelpreis bekommen.

Thure von Uexküll 1999. Der Mediziner wurde am 15. März 1908 in Heidelberg geboren und starb am 29. September 2004 in Freiburg i.Br. (Foto: Foto: Koll/dpa)

Dennoch hat er mehr für Patienten getan als viele andere Mediziner. Er war stets ein hingebungsvoller Menschenarzt. Das muss man betonen, denn es ist heute nicht mehr selbstverständlich.

Uexküll hat sich um das große Ganze gekümmert, darum, wie der Mensch lebt, Beziehungen aufnimmt, wie er empfindet und missempfindet. Sein Vater war der renommierte Biologe Jakob Johann von Uexküll (1864-1944).

Der Stifter des Alternativen Nobelpreises Jakob von Uexküll (geboren 1944) ist sein Neffe. "Wir hatten das große Glück, dass uns unser Vater schon als Kindern klar gemacht hat, dass die Welt für den Regenwurm anders aussieht als für den Hund und für den Hund anders aussieht als für den Menschen", sagte Thure von Uexküll.

Dieses Interesse für unterschiedliche Perspektiven hat Uexküll beibehalten. Er achtete darauf, dass die Sicht der Patienten in der Medizin nicht zu kurz kam.

Auf die Frage, ob es typische psychosomatische Leiden gebe, antwortete Uexküll lakonisch: "Rein somatisch ist gar nichts. Es gibt nur psychosomatische Krankheiten." Das gelte auch für Knochenbrüche oder einen Sehnenriss, denn auch da sei "das Psychische am Werk", was sich daran zeige, dass manche Menschen merkwürdig anfällig für Unfälle seien.

Die Perspektive des Patienten

Mit dem Begriff "Passungsstörung" versuchte er die Entstehung von Krankheit zu erklären. "Wenn es Neues gibt, müssen Menschen Anpassungsleistungen vollbringen. Manchmal gelingt dies, manchmal nicht. Und weil sich die Umwelt immer schneller ändert, müssen auf allen Ebenen immer mehr Anpassungsleistungen vollbracht werden."

Uexküll deutete die Zeichen, die von den Kranken ausgingen, ihr Umfeld und ihre Beziehungen, um den Ursachen des Leidens auf den Grund zu gehen.

"Wir müssen unsere Wirklichkeit passend konstruieren, und sie passt eben häufig nicht", sagte er. "Dann zeigen sich nicht nur Fehlkonstruktionen, sondern manchmal auch Versuche, etwas am untauglichen Objekt zu konstruieren." In diesem Sinne war Uexküll Konstruktivist, Systemtheoretiker und Semiotiker, bevor diese Begriffe populär wurden.

Manche Ärzte halten Uexküll für den Begründer der Psychosomatik in Deutschland. Diese Rolle müsste er sich aber mit Georg Groddeck, Viktor von Weizsäcker und anderen teilen.

Unbestritten sind jedoch seine Verdienste, das Fach gegen Widerstände in Kliniken und Fakultäten etabliert zu haben. Für diejenigen, die ihn beruflich wie privat begleiteten, war Uexküll allerdings mehr als das - ein großartiger Arzt, der viele Leute anzog und animierte, die Menschlichkeit in der Medizin nicht zu vernachlässigen.

Gern diskutierte er Fallgeschichten und wissenschaftliche Entwicklungen in größerer Runde. Bis kurz vor seinem Tod am 29. September 2004 in Freiburg kamen Freunde und Schüler regelmäßig zum Gespräch in sein Haus, wo man guten Wein und einen herrlichen Blick über die Rheinebene genießen konnte.

"Regelmäßig Alkohol in erheblichen Mengen"

Wenn die Medizin zu kleinteilig wurde, war Thure von Uexküll besonders unterhaltsam. Ob er Ernährungsempfehlungen folge und was er von Vitaminzusätzen halte, wurde er gefragt. Erst lachte er, dann eine Pause. "Doch, regelmäßig Alkohol in erheblichen Mengen nehme ich zu mir", sagte er schließlich. "Und gutes Essen in vielfältigen Variationen."

Nach dem Medizinstudium war Uexküll 1935 als Assistenzarzt an die Berliner Charité gekommen. Eine Hochschulkarriere war unter den Nazis ausgeschlossen, denn Parteimitglied wollte er nicht werden. Nach der Habilitation 1948 blieb er als Privatdozent und außerplanmäßiger Professor an der Medizinischen Poliklinik der Universität München.

Er entwickelte sich bereits damals zum führenden Vertreter der psychosomatischen Medizin und war einer der profiliertesten Ärzte der Stadt. 1955 nahm er die Chance wahr, als Ordinarius an der neu gegründeten Reformuniversität Gießen, seine Ideen einer biologisch, psychologisch und sozial ausgewogenen Medizin umsetzen. Er holte bedeutende Köpfe nach Gießen wie den Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter und den Internisten Johannes Cremerius.

Zeitlebens vertrat Uexküll eine integrierte Psychosomatik, die den psychosomatischen Ansatz nicht innerhalb eines eigenen Fachgebietes, sondern in allen Bereichen der Medizin verwirklichen wollte.

Dass es heute an den meisten Medizin-Fakultäten eigene Institute oder Kliniken für Psychosomatik gibt - oft von seinen Schülern geleitet -, hätte Uexküll zwar um der Sache willen gefreut. Seine Idee war es jedoch, die Psychosomatik im Denken und Handeln eines jeden Arztes zu verankern.

Uexküll erkannte wohl die Gefahr, Krankheiten wie Asthma, Ekzeme oder Magengeschwüre allein als psychosomatisch anzusehen. Er fürchtete die seit der Antike beklagte "Spaltung in Ärzte für Körper ohne Seelen und Ärzte für Seelen ohne Körper".

1966 wurde Uexküll an die Reformuniversität Ulm berufen. Er initiierte eine Reform des Medizinstudiums mit einer Ärzteausbildung, die stärker auf Patienten ausgerichtet sein sollte und Psychologie, Soziologie und Psychosomatik im Studium verankerte.

Als er 70 Jahre alt war, erschien sein Standardwerk "Psychosomatische Medizin"; das in sechster Auflage erhältliche, 1400 Seiten starke Buch heißt längst nur noch "der Uexküll".

Im Alter von 80 Jahren kaufte sich der Arzt seinen ersten Computer. Kurz bevor er mit 96 Jahren starb, wollte er ein neues Buchprojekt beginnen. Darin sollte es um die Entwicklung der Medizin gehen: "Der vorherrschende Gesundheitsbegriff beschreibt das gute Funktionieren einer Maschine - einer sehr komplizierten Maschine, die man aber zerlegen kann in Teilmaschinchen", sagte Uexküll im hohen Alter.

Philosophikum statt Physikum

"Es fehlt der Medizin eine Definition des erlebenden Körpers. Eine Definition für Seele hat sie auch nicht, wenn beides getrennt formuliert wird. Das Menschenbild der Medizin ist technokratisch. Der biotechnisch nicht fassbare Inhalt geht verloren, um den kümmern sich die meisten Mediziner nicht."

Die Entwicklung der Medizin zeigt immer deutlicher die Defizite einer rein naturwissenschaftlichen Heilkunde: Psychosoziale Störungen wie Depressionen, Ängste und Körperbeschwerden ohne fassbaren Befund nehmen zu.

Viele Patienten fordern, dass Mediziner auch psychische und soziale Ursachen und Folgen ihrer Leiden berücksichtigen. Eine von Uexkülls vielen Ideen zielte auf die Umgestaltung des Medizinstudiums: Das Physikum solle durch ein Philosophikum ersetzt werden.

"Schließlich machen die Krankheiten, die mit dem engen mechanistischen Konzept der Schulmedizin erfasst werden können, nur ungefähr fünf Prozent aus. Nur auf diese trifft das medizinische Modell zu, für diese ist es hilfreich."

© SZ vom 15.03.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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