Zellbiologie:Wehe, wenn sie verklumpen

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Verklumpungen von Proteinen, wie sie vermutlich auch bei der unheilbaren Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) entstehen. (Foto: Louise Jawreth, MPI-CBG)

In jeder Zelle übernehmen Proteine wichtige Aufgaben. Manchmal verbinden sich die molekularen Helfer zu bizarren Gebilden. Das ist evolutionär sinnvoll - und der Ursprung mancher Krankheiten.

Von Ken Garber

Wie bei vielen großen Entdeckungen begann es auch in Paul Taylors Labor mit einer merkwürdigen Beobachtung. Irgendwann im vergangenen Jahr kam eine Mitarbeiterin mit einem eisgekühlten Probengefäß zu dem Zellbiologen vom Howard Hughes Medical Institute in Memphis. In dem Röhrchen schwappte eine weiße Flüssigkeit. Als sie das Gefäß aus dem Eis hob, wurde die Flüssigkeit klar. Wieder kalt gestellt, trübte sie sich erneut. Das hätte nicht passieren dürfen, schließlich enthielt das Gefäß gelöste Proteine und sollte immer klar sein.

Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, untersuchte Taylor die weiße Version der Flüssigkeit unter dem Mikroskop. Er sah, wie sich Proteine zu winzigen Tropfen zusammenballten, so ähnlich wie sich das Öl in einer Vinaigrette verhält. So etwas hatte Taylor noch nie gesehen. Was diese Entdeckung allerdings besonders bemerkenswert macht, ist die Identität des Proteins: Wenn sich das Gen, das den molekularen Bauplan für dieses Protein enthält, verändert, also eine Mutation abbekommt, löst es Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) aus, ein unheilbare Krankheit, die das Nervensystem zerstört.

Waren die Tröpfchen frühe Reaktionszentren für Moleküle in der Ursuppe?

Taylor ist nicht der Einzige, der auf diese Proteintröpfchen gestoßen ist. Unabhängig voneinander haben im vergangenen Jahr mehrere Gruppen von diesem Phänomen berichtet. Erst kürlich sind vier Fachartikel darüber in den Journalen Cell und Molecular Cell erschienen. Manche Wissenschaftler argumentieren, die Tröpfchenbildung sei Teil jener zellulären Mechanismen, die die Aktivität der Gene steuern. Wenn dabei etwas schiefgeht, so die Annahme, könnten sich die Proteine zu unlöslichen Aggregaten verfestigen, wie sie bei ALS und anderen neurodegenerativen Erkrankungen gefunden werden.

Der Biochemiker Steve McKnight von der University of Texas glaubt deshalb, das Forschungsgebiet stehe vor neuen, profunden Einsichten in die Organisation der Zelle. Denn die neuen Beobachtungen passen zu einem alten biologischen Rätsel. Das korrekte Ablesen und Umsetzen der Erbinformationen in einen lebendigen Organismus ist abhängig von zwei großen Gruppen von Proteinen, den "Kronjuwelen der Biologie", wie McKnight sie nennt. Da sind zunächst die sogenannten Transkriptionsfaktoren, die Gene einschalten. Die anderen Proteine binden an die RNA, das Schwestermolekül der DNA, und transportieren diese zur richtigen Zeit an die richtigen Orte in der Zelle, damit nach ihren Bauanweisungen dort Proteine gebildet werden können. Diese RNA-bindenden Proteine (kurz: RBP) aber auch die Transkriptionsfaktoren ähneln in manchen Bereichen den infektiösen und gefährlichen Prion-Molekülen, die etwa den Rinderwahnsinn BSE oder beim Menschen die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auslösen. Warum? "Das ist ein Mysterium", sagt McKnight.

Die neuen Forschungsarbeiten bieten nun zumindest für die Gestalt der RPB eine Erklärung: Der prionenähnliche Teil dieser molekularen Helfer sorgt nämlich dafür, dass sie sich zu jenen Tröpfchen zusammenfinden, die Taylor und seine Kollegen so faszinieren. Dieser Mechanismus könnte die Proteine und die gebundene RNA-Erbinformation schützen und zusammenhalten, bis sie am richtigen Platz im Inneren der Zelle angekommen sind.

Solche molekularen Verbände könnten auch die Entstehung von Leben vor mehr als drei Milliarden Jahren überhaupt erst möglich gemacht haben, spekuliert der Zellbiologe Anthony Hyman vom Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, der an einer der aktuellen Untersuchungen beteiligt war. In den Tröpfchen hätten bereits chemische Reaktionen ablaufen können, bevor sich biologische Membranen entwickelt haben. Er glaubt, dass sich die ersten größeren Moleküle in der Ursuppe auf der noch jungen Erde zu solchen "Reaktionszentren" formierten.

Diese Fähigkeit zur Versammlung hat jedoch auch eine gefährliche Seite. Die Proteine können auch zu festen Gebilden verklumpen, die Krankheiten verursachen. Hyman und Taylors Arbeitsgruppen konnten in Experimenten nachstellen, wie sich Tröpfchen aus RNA-bindenden Proteinen in faserige Strukturen verwandeln, die Protein-Aggregaten ähneln, wie man sie auch im Gehirn von Menschen findet, die an ALS oder Alzheimer leiden. Die Forscher konnten außerdem zeigen, dass abnorme RBP, deren genetischer Bauplan eine Mutation enthielt, solche Klumpen schneller bilden. Ben Wolozin, Alzheimer-Forscher von der Boston University, bezeichnet die Arbeiten deshalb als wichtig, weil sie "einen neuen Mechanismus liefern, der zu den gefährlichen Aggregaten führen kann".

Pharmaunternehmen beobachten die Entwicklung genau

Bislang wurde dies allerdings nur im Laborexperiment nachgestellt und nicht in lebenden Zellen beobachtet. "Wir haben das oft versucht", sagt Hyman, "in vivo wechseln sie nicht von flüssig zu fest." Er vermutet, dass es einen zelleigenen Entsorgungsmechanismus für verklumptes RBP gibt. Gefährlich würde es demnach nur dann, wenn die Entsorgung durch Alter oder Krankheit nicht mehr richtig funktioniert.

Unklar ist allerdings noch, wie die Tröpfchenbildung beginnt. Laut Taylor komme es bereits zu solchen Formationen, wenn die prionenähnlichen Bereiche der Proteine aneinander binden. McKnight will das jedoch nicht glauben. Schließlich kann er in seinem Labor bei ähnlichen Experimenten keine Tröpfchen finden, dafür aber Proteinfasern - ähnlich wie in kranken Nervenzellen, allerdings weniger fest. Er zweifelt die Arbeiten der Kollegen, die Tröpfchen gefunden haben, nicht an: "Sie finden coole Sachen heraus. Wenn es eine Kontroverse gibt, dann wird die sicherlich bald gelöst sein."

Pharmaunternehmen beobachten die Entwicklung zurzeit sehr genau. Würde man nämlich verstehen, wie sich die Tröpfchen in feste Aggregate verwandeln, könnte man vielleicht auch einen Weg finden, sie wieder aufzulösen und so neurodegenerative Erkrankungen zu behandeln. "Ich bin von Anfragen überschwemmt worden", sagt Taylor. "Das ist das größte Ding in meiner Laufbahn als Zellbiologe."

Dieser Text ist im Original in Science erschienen, dem internationalen Wissenschaftsmagazin, herausgegeben von der AAAS. Weitere Informationen: www.sciencemag.org, Dt. Bearbeitung: hach

© SZ vom 26.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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