Wissenschaft:Das Geheimnis des Geckos

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Warum fallen Fliegen, Käfer und Geckos nicht von der Wand? Der Stutgarter Eduard Arzt und sein Team haben die Tricks der Tiere erforscht. Das Ergebnis: Gecko-tape - eine Revolution in Sachen Haftsysteme. Das ehrgeizige Ziel: besser zu werden als die Natur.

Regine Dee

Munter klettert der kleine Ampferblattkäfer in der Zentrifuge umher, nicht ahnend, welches Abenteuer ihm blüht. Eben noch auf der grünen Wiese des Stuttgarter Max-Planck-Instituts unterwegs, soll er unvermutet im Labor der Wissenschaftler Karussell fahren. Wahrscheinlich schneller als seinem natürlichen Rollercoaster-Verlangen lieb ist, denn der grün glänzende Krabbler hält erstaunt inne und presst die Füße fest an den Boden, als die Scheibe sich zu drehen beginnt.

Und dann geht's rund.

Bis zu 3000 Umdrehungen pro Minute schafft die Zentrifuge - allerdings irgendwann ohne den Testfahrer, der den Abflug in die Bande gemacht hat. Eine Lichtschranke registriert den Zeitpunkt seines Abhebens und errechnet so die Haltekräfte des Käfers.

Warum können Fliegen über Kopf an der Decke laufen? Was hält die dünnen Beinchen der Spinne am Ast fest? Wie schafft es der dicke Gecko, an einer glatten Wand hochzuklettern? Das sind die Fragen, die Eduard Arzt und seine Mitarbeiter seit Jahren beschäftigen.

Der Physiker und Materialwissenschaftler ist Direktor am Max-Planck-Institut für Metallforschung und leitet seit 15 Jahren eine Abteilung für Werkstoffe und Biologische Systeme mit Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen. Hauptamtlich ist er Inhaber des Lehrstuhls für Metallphysik an der Stuttgarter Universität, deren Gebäude nur ein paar Kilometer entfernt liegen. Der Lehrstuhl wurde vor drei Jahren mit dem Max-Planck-Institut in einem Komplex im Stadtteil Büsnau vereint.

Nicht besonders zentral, dafür in der Nähe des Katzenbacher Sees und von vielfältiger Flora und Fauna umgeben. Am Gecko-Projekt arbeiteten verschiedene Forscher. Die Biologen wussten: Viele Tiere benutzen feine Hafthärchen, um ihr Gewicht zu halten. Als sie jedoch 300 Insektenarten unter dem Raster-Elektronenmikroskop untersuchten, entdeckten sie einen erstaunlichen Zusammenhang: Je schwerer ein Tier ist, desto feiner sind seine Haftstrukturen.

Von der kleinen Fruchtfliege, deren Hafthärchen einige Mikrometer im Durchmesser dünn sind - was etwa einem Zehntel eines menschlichen Haares entspricht -, bis zum Gecko, an dessen Füßen komplizierte hierarchische Haftsysteme stecken. Sie verzweigen sich wie ein Baum und bilden an ihren Enden so winzige Härchen aus, dass ihre Größe im Nanobereich liegt. Von diesen Härchen hat der Gecko dann aber gleich eine Milliarde pro Fuß.

Kaum trifft man einen Physiker, schon gerät man ins Grübeln: Mikro? Nano? Natürlich: Ein Nanometer entspricht einem Tausendstel Mikrometer, wovon jeder wiederum ein Tausendstel Millimeter ausmacht. Wieviel Haftkraft hat also die Fliege? Der Gecko? Das hat Eduard Arzt berechnet, eine Kurve aufgestellt zwischen dem leichtesten und dem schwersten Tier.

Und siehe da: Käfer und Spinne lagen genau drauf. "Das sind so die Sternstunden! Dass sie auf einer Gerade liegen, konnte man vermuten. Aber dass die auch die richtige Steigung hat - das war toll." Noch heute strahlen die Augen des sonst eher zurückhaltenden Wissenschaftlers. Trotzdem verstehe ich noch immer nicht, was die Fliege an der Wand hält.

Macht nichts, der Professor ist geduldig: Die Haftung bewirken die van-der-Waals-Kräfte, ein weiteres Geheimnis der Physik. In jedem Festkörper bewegen sich Elektronen, deren Fluktuation die Elektronen im anderen Partner so beeinflusst, dass eine Anziehungskraft entsteht. Was aber nur funktioniert, wenn der Abstand sehr eng ist. Nanomäßig eng, sozusagen.

"We study size effects", erklärt Eduard Arzt seinen Studenten. "Was passiert, wenn ich die Dinge immer kleiner mache?" Oder immer höher? Immer dünner? Dass ihn Extreme faszinieren, sieht man dem 49 Jahre alten, schlank und sportlich aussehenden Forscher aus Linz nicht sofort an. Große Gesten und jede Theatralik scheinen ihm fremd.

In seiner Vorlesung spricht er leise und sachlich, wirkt seriös, aber nicht humorlos, trägt Schlips zu Hemd und Pullover. Aufmerksam registriert er jedes Gemurmel in der Zuhörerschaft - wohl auch, weil die Studenten ansonsten mäuschenstill zuhören und überhaupt nicht murmeln. Meist steckt eine Frage dahinter, die der Professor aufgreift und beantwortet.

"Ich wirke so ruhig," erzählt er später. "Das ist mein Problem. Da denkt jeder: Der ist nicht gestresst, der kann noch mehr machen." Dabei reichen ihm die Vorträge, Vorlesungen und die Bürokratie seines Jobs, das Coaching der Mitarbeiter inklusive das Bewältigen von Konfliktsituationen aller Art.

"Vielleicht ist es die Liebe zum Detail, zur Perfektion, die ihn manchmal belastet", mutmaßt Ralph Spolenak, Mitarbeiter am Gecko-Projekt, inzwischen Professor an der ETH Zürich, der nach eigenem Bekunden ein großer Fan seines ehemaligen Chefs ist. Warum?

"Weil er es versteht zu führen, ohne anderen seine Meinung aufzudrängen." Außerdem sei er einer der wenigen Wissenschaftler, die es schaffen, auch ein guter Manager zu sein. Sich konzentrieren auf das, was vor ihm liegt, das hat Eduard Arzt vielleicht am Klavier gelernt. Denn er ist nicht nur Physiker, sondern auch ausgebildeter Konzertpianist. "Ich komme aus einer Musikerfamilie, da lernte jeder der drei Söhne ein Instrument."

Gleichzeitig faszinierte ihn schon mit zehn Jahren, welche geheimen Kräfte einen Fahrraddynamo zur Lichterzeugung bringen. "Ich will Physik studieren", schrieb er deshalb bereits in einem Grundschulaufsatz. Die Musik spielt trotzdem noch eine große Rolle in seinem Leben.

Gemeinsam mit anderen praktiziert er Kammermusik, organisiert gerade ein kleines Konzert und sitzt auch heute noch täglich am Klavier - mit Mozart, Chopin oder Bach. Oder probiert sein neues Weihnachtsgeschenk: ein Cembalo. Klar, dass auch Sohn und Tochter Instrumente spielen. Allerdings sind sie inzwischen erwachsen und nur noch selten für die Hausmusik verfügbar. Nach Deutschland kam Arzt einst mit seinem Doktorvater Helmut Fischmeister.

Der überzeugte den jungen Physiker von der Grundlagenforschung, so dass er die angebotene Stelle bei einem Schweizer Konzern ausschlug. "Ich habe fast alle meine Entscheidungen auf der menschlichen Ebene getroffen." Sich zu fragen: Mit wem kann ich zusammen arbeiten? Wie macht das irgendwie Spaß? - das rät er noch heute seinen Studenten.

Nur um mit dem Materialforscher Michael Ashby zusammen zu arbeiten, ging Arzt ein paar Jahre später nach Cambridge. Zu schlechteren Bedingungen als in Deutschland, aber die gute Atmosphäre dort entschädigte für vieles. "Na, was gibt's denn Neues in der Physik?", fragt Sie da beim Mittagessen im College plötzlich ein Historiker. Diese Kultur, dieses Ungezwungene, kriegen wir hier nicht hin", erinnert sich Eduard Arzt.

Um am Max Planck Institut zu forschen, zog er schließlich nach Stuttgart um. Aus den geplanten zwei Jahren wurden sieben, dann kam der Ruf aus den USA. "Und kaum hatte ich den, kamen drei weitere aus Deutschland." Doch zunächst ging es nach Stanford, später noch ans Massachusetts Institute of Technology nach Cambridge bei Boston.

Es schwirrt

Die Hochtemperaturlegierungen waren damals sein Thema: Wie nahe darf man dem Schmelzpunkt kommen, ohne dass die Legierung Schaden erleidet? "Ein sehr spannendes Grundlagenproblem. So ein Kristall bei 1000 Grad, das ist ja kein Kristall mehr, das ist mehr wie ein Bienenhaufen: Die Atome wechseln 1000 Mal in der Sekunde ihren Platz - das schwirrt richtig."

Dass die Gasturbine oder der Dieselmotor dennoch fest bleiben - das ist die Herausforderung. Konstrukteure wollen die Temperaturen gern erhöhen, weil die Motoren dann wirkungsvoller laufen und weniger Treibstoff verbrauchen. "Das ist natürlich ein irres Geschäft, vor allem für die Fluglinien. So haben wir durch unsere Forschung enge Kontakte zur Industrie, obwohl wir grundlagenmäßig publizieren."

Die Industrie will immer wieder wissen:Wie nahe bin ich am Abgrund? Wie viel Spielraum gibt es, bevor Teile reißen, brechen, sich verformen? Eduard Arzt kennt das Bedürfnis, etwas ganz verstehen zu wollen. "Sich der Dinge zu vergewissern, ihnen nicht ausgeliefert zu sein." Singuläre Forschung an spektakulären hänomenen ist nicht seine Sache.

"Ich bin einer, der versucht, ein Problem einzukreisen. Wenn es dann zu rund wird, muss man sich was Neues einfallen lassen." Und woher kommen neue Ideen? Am liebsten zieht sich der Forscher nach Stanford zurück, wo er noch ein Büro hat. Dort gelingt es ihm, Abstand zur heimatlichen Hektik zu gewinnen.

"Die Kreativität ist eine heikle, zarte Pflanze", sagt Arzt. Da braucht man Zeit. Zum Blättern beispielsweise. "In der Bibliothek stöbern, blättern und zufällig etwas finden. Das nimmt durch den Computer immer mehr ab, weil man nur zielgerichtet sucht."

Zufällig fiel ihm in Stanford ein Buch über "Contact Mechanics" in die Hände, ein Schlüsselerlebnis zur Gecko-Forschung. Denn die Frage "Warum halten viele kleine Flächen besser als eine große?" ist inzwischen zwar besser verstanden, aber nach wie vor nicht restlos gelöst. Ist es die Tatsache, dass an den längeren Rändern von vielen kleinen Flächen mehr Risse nötig sind, damit sich zwei Dinge lösen?

Immer noch gehört die Kontakttheorie zu den komplexesten Theorien überhaupt. Zwei Gegenspieler müssen sich anpassen und verformen, um vom Kontakt zu profitieren. Zuviel Verzerrung wiederum führt zu Spannungen im eigenen System. Gesucht wird das Optimum. "Das gilt für physikalische wie auch für menschliche Kontaktphänomene", stellt der Materialforscher fest.

Dem wirtschatlichem Erfolg des inzwischen patentierten Verfahrens steht nichts mehr im Wege - wenn geklärt ist, wie der optimale Kontakt zwischen künstlichem Gecko-Fuß und weicher oder harter Oberfläche aussieht, welche Elastizität die Härchen brauchen, welches Material sich besonders gut eignet. Mit Gecko-Tape, das auf jeder Oberfläche klebt und sich problemlos wieder ablösen lässt, könnten Bilder an die Wand gehängt oder auch Sensoren auf den Außenflächen von Flugzeugen und Raumschiffen angebracht werden.

Mit einem schaltbaren Adhäsionssystem, das per Knopfdruck die Haftkraft regelt, ließen sich Autoreifen von Sommer auf Winter umschalten - derzeit noch eine wilde Phantasie.

Mit Kletterschuhen und -handschuhen, die am Berg haften, würde die Sportindustrie Millionen verdienen. Erste Modelle von Haftsystemen aus Kunststoff liegen jetzt vor. "Wir können noch zehnmal besser werden als der Gecko", vermutet Arzt. So neu und einzigartig fand der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft die Ergebnisse, dass er den Forschern - unter ihnen Biologe Stanislav Gorb, Theoretiker Huajian Gao und Physiker Ralph Spolenak - im letzten Jahr den Wissenschaftspreis verlieh. Jetzt beginnt der Wettlauf: Eine Handvoll Gruppen weltweit arbeitet an der Umsetzung des Prinzips.

Die Stuttgarter vertrauen auf die Zulassung ihres Patents in den USA und ihre Fachkompetenz. "Wir haben eine einzigartige Kombination unter einem Dach - von der Biologie über die Theorie bis zur Herstellung können wir alles selbst machen."

Dramatische Auslöser für Produktideen

Manchmal sind die Auslöser neuer Produktideen dramatisch. Vor fast fünf Jahren geriet Eduard Arzt, der gern segelt, Ski fährt, joggt und auch Rad fuhr, mit seinem Rennrad auf Mallorca in eine Massenkarambolage, überschlug sich und erlitt trotz Helm so schwere Verletzungen, dass sein Kiefer in aufwändigen Operationen wiederhergestellt werden musste - mit Schienen, Schrauben und Implantaten.

Gerade mit diesen Implantaten aber war sein Gesichtschirurg überhaupt nicht zufrieden: Sie hielten den Kaubewegungen mancher Patienten nicht stand und brachen zu schnell. "Wir haben dann im Institut einen künstlichen Kiefer gebaut und die Belastungen imitiert." Diese medizinisch-physikalische Zusammenarbeit hat zu Vorschlägen für die Optimierung des Produktes geführt, die jetzt umgesetzt werden.

Das schockierende Erlebnis ist nicht vergessen. Ein halbes Jahr musste Arzt pausieren. "Da bekommt man Abstand von der Karrierehetze", berichtet er, "davon, dass man Erwartungen erfüllen muss, dass man etwas nachjagen muss."

Wovon träumt er noch? Als dienstältester Direktor des renommiertesten Forschungsinstituts, als Wissenschaftler, ausgezeichnet mit mehreren Preisen, darunter dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, als Mann, der bald 50 wird und immer noch neugierig ist.

"Ich würde irrsinnig gern mal eine Oper dirigieren oder auch inszenieren", sinniert der Wissenschaftler. Etwas Großes entstehen lassen, eine Synthese schaffen statt - wie täglich am Institut - Dinge zu zerschneiden und sie bis ins kleinste Detail zu analysieren. Na gut, vielleicht doch keine Oper. "Aber noch mal von Null anfangen und irgendwo etwas ganz Neues aufbauen, das könnte ich mir als wirklich gute Herausforderung vorstellen."

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