Wahl-Prognosen:Voll daneben

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Weiß ein Wähler fünf Minuten vor Stimmabgabe selbst nicht, wo er sein Kreuz macht, "dann kann man das auch nicht prognostizieren". (Foto: Jens Schlueter/Getty Images)

Lange hoffte man, dass mit Big Data auch Wahl-Prognosen besser werden. Doch bei der letzten US-Wahl lagen die Demoskopen daneben. Viele Modelle stoßen wohl an eine fundamentale Grenze der Genauigkeit.

Von Christoph Behrens

Die Ära von Big Data ist von einem Paradox geplagt: So viele Informationen wie nie zuvor stehen frei zur Verfügung, und dennoch sind verlässliche Aussagen über die Zukunft rar. Welcher Demoskop hätte vor einem Jahr gewusst, dass Großbritannien aus der EU austritt und Donald Trump US-Präsident wird? In beiden Fällen lagen selbst ausgefeilte mathematische Modelle grob daneben.

Mehrere Artikel in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Science versuchen zu klären, was Vorhersage-Techniken derzeit noch leisten können. Die gute Nachricht: Trotz Versagens bei Brexit und Trump schneiden Demoskopen insgesamt gut ab. Vor den US-Wahlen 2012 sagte der Datenwissenschaftler Nate Silver die Ergebnisse aller 50 Bundesstaaten richtig voraus, in vielen Industrienationen gelingen Politbarometer bis auf wenige Prozentpunkte oder Kommastellen genau. In Science berichtet ein Team von der Universität Houston von einem mathematischen Modell, das bei etwa neun von zehn Wahlen korrekt vorhersagt, ob der Amtsinhaber gewinnt oder der Herausforderer. Das Prognose-Werkzeug ist dabei nicht auf ein Land beschränkt. Die Wissenschaftler speisten es mit 621 Wahlergebnissen seit 1945 aus 86 verschiedenen Ländern, um zu einem globalen Wahlmodell zu kommen. Faktoren wie der Grad der Demokratisierung, die Stärke der Wirtschaft oder die Außenpolitik fließen darin ein. So sagten die Forscher beispielsweise zehn von elf Wahlen in Südamerika korrekt voraus. Der stärkste Helfer für die Prognose war aber nicht der Zustand der Wirtschaft, sondern unabhängige Wählerbefragungen vor Ort. "Umfragen können nicht nur in den USA, sondern global dazu dienen, Wahlen vorherzusagen", sagt der Autor der Studie Ryan Kennedy. Es sei ein Fehler, auf solche Umfragen künftig zu verzichten - Kritik daran wurde zuletzt nach Trumps Überraschungssieg laut.

Wo der Zufall eine Rolle spielt, wird es schwierig, Vorhersagen zu treffen

Doch warum gelang es trotzdem in den USA nicht, den Wählerwillen abzubilden? "Wenn Vorhersagen nicht perfekt sind, könnte der Grund in zu wenigen Daten liegen", schreibt Jake Hofman von der Forschungsabteilung von Microsoft in einem weiteren Science-Artikel. "Aber es könnte auch sein, dass das Phänomen selbst unvorhersehbar ist und die Genauigkeit der Vorhersage an eine fundamentale Grenze stößt." Ein Rest Unsicherheit bleibe selbst im besten Modell. Der Zufall spiele bei Ereignissen wie dem Wahlsieg Trumps eine Rolle, argumentiert Hofman. Und der lasse sich nicht wegrechnen.

Das Problem ist, dass diese Unsicherheit wohl zunehmen wird. "Faktoren, die Prognosen früher Sicherheit gegeben haben, nehmen ab", sagt der Politikwissenschaftler Eric Linhart von der TU Chemnitz. Beispielsweise sinke die Identifikation mit einer bestimmten Partei in vielen Ländern, darunter Deutschland. Zudem sind Wahlentscheidungen zunehmend von Stimmungen abhängig, Ereignisse wie ein Terroranschlag können Emotionen schnell kippen lassen. Weiß ein Wähler fünf Minuten vor Stimmabgabe selbst nicht, wo er sein Kreuz macht, "dann kann man das auch nicht prognostizieren", so Linhart. Laut Hofman müssen Demoskopen eine Grenze für Vorhersagen akzeptieren - und mit der Unsicherheit leben lernen.

Diese Demut ist neu. Lange galt als ausgemacht, dass mehr Daten automatisch zu besseren Ergebnissen führen. "Mit genug Daten sprechen die Zahlen für sich selbst", schrieb Wired-Chefredakteur Chris Anderson 2008. Nun bemerkt der Konfliktforscher Lars-Erik Cederman nüchtern, "die Hoffnung, dass Big Data irgendwie valide Vorhersagen ermöglicht, ist fehl am Platz".

© SZ vom 06.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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