Vor der Katastrophe:Wieviel Zeit bleibt uns noch?

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Im Sommer dieses Jahres verdichteten sich die Anzeichen, dass die Erde einen wichtigen klimatischen Wendepunkt überschritten hatte: Die arktische Eisplatte befindet sich wahrscheinlich im letzten Stadium der Auflösung, und die Folgen werden über die gesamte Erde zu spüren sein.

Tim Flannery

Die Schlüsselfrage ist natürlich, ob wir überhaupt noch Zeit haben, um den Untergang abzuwenden. Dazu müssen wir erst einmal begreifen, was diese große Schmelze für das Leben auf der Erde bedeuten wird.

Eisbär in der Arktis. (Foto: Foto: Greenpeace/dpa)

Seit den siebziger Jahren schmolz der arktische Eisschild um acht Prozent pro Jahrzehnt, sodass er im Jahr 2004 etwa ein Viertel seiner Fläche verloren hatte - und viel von seiner Dicke.

Dieser düstere Trend bewog Wissenschaftler zu der Warnung, dass er bis zum Sommer 2100 vollständig wegschmelzen könnte. Im Sommer 2005 jedoch stieg das Schmelztempo rasant, der arktische Eisschild schrumpfte um unglaubliche 300 000 Quadratkilometer.

Die Schmelze von 2006 war fast ebenso dramatisch, was bedeutet, dass der sommerliche Eisverlust inzwischen viermal so groß ist wie noch vor ein paar Jahren.

Zu diesen gewaltigen Verlusten kommt es offenbar, weil der offene Ozean, der durch die Eisschmelze zunehmend der Sonne ausgesetzt wird, inzwischen so viel Wärme aufnimmt, dass der Wendepunkt überschritten wurde, nach welchem der Eisverlust schneller und irreversibel wird.

Ist das der Fall, dann wird der arktische Eisschild in den nächsten fünf bis 15 Jahren den Sommer über vollständig verschwinden. Die Nachrichten zum Wintereis sind noch schlimmer. Bis 2004 schmolz es viel langsamer als das Sommereis.

Dann stieg die Rate auf das Zehn- bis Fünfzehnfache. Weil das Plankton, Grundlage der arktischen Nahrungskette, auf das sommerliche Schmelzen des Wintereises angewiesen ist, muss man mit einem Zusammenbruch dieser Nahrungskette rechnen.

Gefahr für das Wärmegleichgewicht der Erde

Wir können nur wider jede Vernunft hoffen, dass sich das Eis regeneriert. Geschieht das nicht, wird es den großen arktischen Eisschild, der der Erde drei Millionen Jahre lang als Klimaanlage diente, indem er die Sonnenstrahlung ins All reflektierte, bald nicht mehr geben.

Das wird sich auf das Wärmegleichgewicht der Erde auswirken, indem es das Wärmegefälle zwischen Nordpol und Äquator verändert, welches das Wetter der Nordhalbkugel bestimmt.

Und wenn sich der arktische Ozean in ein großes Hitzebecken verwandelt, wird der große grönländische Eisschild, das letzte Relikt der Eiszeit, erwärmt werden wie nie zuvor.

Es gibt Anzeichen, dass Grönland die Hitze bereits zu spüren bekommt. Nach jüngsten Schätzungen verschwinden rund 235 Kubikkilometer Eis im Jahr. Viel von diesem Schmelzwasser stürzt durch Spalten in die Tiefe und schmiert die Unterseite des Eises, die auf dem Fels aufliegt.

Dadurch schlittern Eismassen von der Größe Berlins bis zu zehn Meter auf einmal nach vorne, was durch die steigende Zahl von gigantischen Gletscherbeben erfasst wird. Zwischen 1993 und 2002 gab es durchschnittlich sechs und 15 solcher Beben. 2004 waren es schon 24, und 2005 wurden 32 gemessen: Sind sie das Vorspiel für den völligen Kollaps?

Sollte der grönländische oder auch der westantarktische Eisschild komplett auseinanderbrechen, würden die Ozeane weltweit um sechs Meter steigen. Das kann überraschend schnell geschehen. Einen Vorgeschmack darauf haben wir bekommen, als 2002 das Larsen-B-Eisschelf wegbrach. Es erhob sich einmal 250 Meter über dem Meer und war so groß wie ein kleines europäisches Land. 12 000 Jahre war es stabil gewesen und doch zerbrach es innerhalb weniger Wochen in unzählige Fragmente.

Dieser Hinweis auf den bevorstehenden Kollaps der Eisschilde brachte James Hanson, Direktor des Goddard Instituts der Nasa und die wohl anerkannteste Klima-Autorität, zu der Aussage, wir hätten etwa ein Jahrzehnt, um zu verhindern, dass der Meeresspiegel um bis zu 25 Meter ansteigt. Man muss sich nur ein achtstöckiges Gebäude vorstellen, das von Wasser überspült wird: So schaut ein Anstieg um 25 Meter aus.

Dinosaurier des Klimawandels: Bush, Howard, Harper

Auf Vortragsreisen stellte ich im vorigen Jahr fest, dass die öffentliche Aufmerksamkeit für dieses Thema zunahm. Noch hat sie sich nicht in den politischen Handlungswillen verwandelt, der uns retten könnte.

Die Dinosaurier des Klimawandels, vor allem US-Präsident George W. Bush, Australiens Premier John Howard und Kanadas Premierminister Steven Harper, führen uns immer noch geradewegs in den Untergang.

Doch selbst unter denen, die die Katastrophe verhindern wollen, handeln nicht alle resolut genug. Ich glaube trotzdem, dass wir noch hoffen können: Immer mehr Wirtschaftsvertreter und Privatleute bemühen sich bis zum Äußersten, ihren CO2-Ausstoß so weit wie möglich zu reduzieren.

Zu den wichtigsten politischen Initiativen gehört, dass die europäischen Staaten Ziele zur CO2-Reduzierung bekanntgegeben haben, die über ihren Kyoto-Verpflichtungen liegen. Und Kalifornien hat sich das Ziel gesetzt, bis 2050 die Treibhausgase um 80 Prozent zu reduzieren.

Dieses Ziel ist weltweit eines der ehrgeizigsten. Selbst China beeilt sich, der Gefahr entgegenzutreten, und hat verkündet, zehn Prozent erneuerbare Energien bis 2010 zu erzeugen und einige der weltweit strengsten Effizienzstandards für Fahrzeugmotoren einzuführen.

Aus Abfällen der Land- und Forstwirtschaft kann bald Bio-Ethanol gewonnen werden, es gibt immer bessere Herstellungsverfahren für Treibstoff. Manche imitieren die Entstehung von Erdöl, indem sie Bioabfälle erhitzen und sie in einer sauerstoffarmen Umgebung hohem Druck aussetzen: Heraus kommen ein Rohölsurrogat und Kohle.

Landwirte profitieren vierfach davon: Sie können Getreide anbauen, den Abfall als Treibstoff nutzen, CO2 aus der Luft holen und es als Kohle langfristig in der Erde einlagern. Und Kohle reichert das Erdreich an, weil es das Mikrobenwachstum fördert. Mit solchen Technologien können wir auch die CO2-Belastung reduzieren.

Dieser Tage ist es schwer, ein Ergebnis im Wettlauf um die Stabilisierung des Klimas vorauszusagen. Doch ist klar, dass die Bedrohung, der die Welt gegenübersteht, so groß ist wie jene andere im Jahr 1938. Und heute wie damals bleibt kaum noch Zeit zu handeln.

Von Tim Flannery erschien zuletzt "Wir Wettermacher - Wie die Menschen das Klima verändern und was das für unser Leben bedeutet" (S. Fischer Verlag, 2006). Übersetzung: P. Steinberger

© SZ vom 2.11.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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