Den Bauern, die vor 7500 Jahren die Ufer des Schwarzen Meeres beackerten, muss es vorgekommen sein, als hätte der Himmel seine Schleusen geöffnet: Am Bosporus, der Meerenge zwischen Europa und Asien, war ein natürlicher Damm gebrochen. Die Sturzflut ergoss sich mit der 200fachen Wucht der Niagarafälle aus dem Marmarameer ins Schwarze Meer, das damals noch 150 Meter tiefer lag und ein Binnensee war. In kürzester Zeit verschwanden rund 100.000 Quadratkilometer Ackerland in den Fluten - mehr als die doppelte Fläche der Schweiz. Die Anwohner flüchteten in Panik oder ertranken.
Das nasse Inferno am Bosporus, behaupten seit Jahren die Geologen Walter Pitman und William Ryan aus den USA, sei die Vorlage für die biblische Sintflut-Erzählung. Ihr Hauptbeweis sind zwei verschiedene Muscheltypen vom Grund des Schwarzen Meeres. Die einen hatten vor 7500 Jahren in Süßwasser gelebt, die anderen 500 Jahre vorher im Salzwasser. Folgerung: Salzwasser muss ins Schwarze Meer eingedrungen sein.
Das Szenario der amerikanischen Forscher erscheint plausibel. Denn die Sintflut fiel in eine Zeit weltweiter Klimaänderung. Nach der letzten Eiszeit schmolzen die Gletscher, die damals weite Teile der Erde bedeckten. Das Schmelzwasser ließ die Pegel der Ozeane um 130Meter ansteigen, acht Prozent der Landfläche versanken. Vor 12000 Jahren war das Mittelmeer so weit angestiegen, dass es ins Marmarameer überlief. Nach weiteren 4500 Jahren sprengten die Wassermassen den Bosporus. Erst dadurch wurde der überflutete Süßwassersee zum salzigen Schwarzen Meer.
Andere Naturwissenschaftler stützen inzwischen die Sintflut-These von Pitman und Ryan. So entdeckte der Unterwasserarchäologe Robert Ballard vor sechs Jahren die ehemalige Küstenlinie des Schwarzen Meeres - 170 Meter unter der heutigen Wasseroberfläche. Ein Jahr später stieß Ballards ferngesteuertes U-Boot auf die Überreste steinzeitlicher Siedlungen. "Noahs Haus entdeckt", vermeldete daraufhin der Daily Telegraph. Und für die Istanbuler Zeitung Hürriyet stand gar fest: "Noah war Türke".
Im Jahr 2004 legte eine Gruppe um den Ozeanographen Mark Siddall von der Universität Bern nach. Um herauszufinden, welche Ablagerungen eine Sintflut am Bosporus hinterlassen hätte, simulierten sie eine Flut im Rechenmodell. Ein plötzlicher Wassereinbruch ins Schwarze Meer hätte demnach eine Strömung ausgelöst, die sich scharf nach links oder rechts bewegt und die Meerenge in einer steilen Kurve verlassen hätte, berichteten die Forscher im Fachblatt Paleoceanography. Tatsächlich findet sich auf dem Meeresgrund ein entsprechender Kanal. Auch einige mehrere hundert Meter hohe Sandhügel, die auf dem Grund des Schwarzen Meeres liegen, könnten von einem sintflutartigen Wasserfall angeschwemmt worden sein, meint Mark Siddall.
Allen naturwissenschaftlichen Indizien zum Trotz ignorieren Historiker die neue Theorie bislang. Sie vertrauen der etablierten Meinung, dass der Sintflutbericht auf Überschwemmungen der beiden großen Flüsse Euphrat und Tigris in Mesopotamien, dem heutigen Irak, zurückgeht. Demnach wurde die Sintflut-Erzählung im Gilgamesch-Epos, einer 3500 Jahre alten babylonischen Heldenerzählung sumerischen Ursprungs, überliefert und unter anderem in das Buch Genesis der Bibel übertragen.
Zwei deutsche Forscher wollen die Historiker nun dazu bringen, die Standardtheorie zu überdenken. Die Hamburger Wirtschaftswissenschaftler Siegfried und Christian Schoppe liefern erstmals auch historische und sprachwissenschaftliche Argumente für die Schwarzmeer-Theorie. Sie beziehen sich auf Flutsagen aus Rumänien, Griechenland und Anatolien. Überschwemmungsflüchtlinge hätten die Erzählungen in diesen Gegenden, die nahe dem Schwarzen Meer liegen, verbreitet.
Die Hamburger Hobby-Historiker melden sich anlässlich einer neuen Übersetzung des Gilgamesch-Epos zu Wort, die der Heidelberger Assyriologe Stefan Maul kürzlich vorgelegt hat (Das Gilgamesch-Epos, Beck-Verlag, 2005). Anhand dieses Textes sei die in Keilschrift auf zerbrochenen Tontafeln überlieferte Geschichte verständlicher als je zuvor, sagt Siegfried Schoppe.
Die Verse der enthaltenden Sintfluterzählung stützen Schoppe zufolge die Schwarzmeer-Theorie. So heißt es von den in den Fluten untergegangenen Menschen: "Wie Fische im Schwarm füllen sie jetzt das Meer." Ausdrücklich sei also von einem Meer und nicht von Flüssen die Rede. In dem Wort "füllen" erkennt Schoppe ebenfalls ein Argument gegen die These vom Flusshochwasser. Denn Flüsse zögen sich nach kurzer Zeit zurück, weshalb die Ertrunkenen sie nicht lange hätten "füllen" können.
Der seit Jahren andauernden Suche nach der Arche Noah könnten die Schoppes neuen Schwung verleihen. Das Holzschiff, auf dem Noah, seine Familie und jeweils ein Paar von jeder Tierart die Sintflut überlebt haben sollen, strandete der Sage nach auf dem Berg Ararat in der Osttürkei. Vor zwei Jahren meinten russische Forscher auf Satellitenbildern dort tatsächlich Überreste der Arche entdeckt zu haben. Ergebnisse ihrer anschließenden Expedition lassen allerdings auf sich warten.
Siegfried und Christian Schoppe zeigen nun, dass sich Geduld bei der Suche auszahlen könnte. Denn das gegen den Uhrzeigersinn zirkulierende Oberflächenwasser des Schwarzen Meeres habe die Arche tatsächlich gegen die Gestade des Ararat getrieben. Und das ging so: Die Bosporus-Sintflut verschluckte die flach gelegene Nordküste des Schwarzen Meeres und riss die örtlichen Pfahldörfer fort. Auf den Holzbauten seien Menschen und Tiere der Strömung folgend an die osttürkische Küste getrieben, meinen die Schoppes. Das Katastrophenszenario sei im Laufe der Zeit zur Geschichte der Arche Noah verdichtet worden.
"In der Sage wird von einem großen Schiff ohne Kiel berichtet", sagt Siegfried Schoppe. So eine Konstruktion sei jedoch nicht schiffbar. Wahrscheinlich habe es sich stattdessen um die Ruinen der Pfahlhäuser gehandelt, schreiben die beiden Forscher in ihrem Buch "Atlantis und die Sintflut" (Books on Demand, Norderstedt, 2004).
Die beiden Ökonomen planen, ihre Theorie bei einer historischen Fachzeitschrift einzureichen. Doch sie machen sich keine Illusionen über einen schnellen Erfolg: "Das Thema Sintflut", haben sie beobachtet, "gilt unter Historikern derzeit als unwissenschaftlich."