Verfolgungswahn:Die Umarmung des Schattenwesens

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Forschern ist etwas Unheimliches gelungen: Sie haben bei einer Patientin per Hirnstimulation die Illusion erzeugt, ein Fremder sei anwesend.

Pia Heinemann

Das Gefühl, jemand stünde direkt hinter einem und verfolge jede Bewegung wie ein Schatten, klingt zunächst nach einem Horrorfilm. Doch immer wieder beschreiben Psychiater und Neurologen, dass schizophrene, paranoide, aber auch gesunde Personen glaubhaft von solchen Empfindungen berichten. Nun haben Hirnforscher aus der Schweiz bei der Untersuchung einer 22-jährigen Epilepsie-Patientin diese Empfindung gezielt ausgelöst und so jene Hirnregion identifiziert, in der die Illusion enststeht.

Die Neurologen wollten das Gehirn der Patientin auf Ursachen für ihre Epilepsieerkrankung hin untersuchen. Sie vermuteten eine Narbe im Hirngewebe, die durch Fehlschaltungen der Nervenzellen die Krampfanfälle auslösen könnte. "Wir haben dann den linken Schläfenlappen des Gehirns genauer untersucht", sagt Olaf Blanke, Leiter des Labors für Kognitive Neurowissenschaften an der Ecole Polytechnique Fédérale in Lausanne. Bei einem chirurgischen Eingriff legten die Ärzte der wachen Patientin ein 64 Quadratzentimeter großes Kunststoffgitter unter den Schädelknochen auf die linke, vordere Gehirnregion der Patientin. Dann stimulierten sie mithilfe der über 100 angebrachten Elektroden verschiedene Hirngebiete. Wie die Wissenschaftler in der Zeitschrift Nature (Bd.443, S. 287, 2006) berichten, löste die Stimulation eines etwa 0,5 Zentimeter großen Gebietes bei der Patientin regelmäßig die Illusion aus, eine unbekannte Person wäre anwesend. Die verantwortliche Region lag in der linken Hälfte der Großhirnrinde, in nächster Nähe zum Sprachzentrum.

Stummes Schattenwesen

Während der etwa zwei Sekunden lang dauernden Stimulation spürte die Patientin die Anwesenheit einer Person unbestimmten Geschlechts hinter sich: Ein "Schattenwesen", das nicht sprach und sich auch nicht eigenständig bewegte. Als sie eine Karte vom Tisch heben und etwas darauf lesen sollte, tat der Schatten es ihr gleich. "Er griff ebenfalls zur Karte und wollte nicht, dass ich sie lese", beschrieb die Patientin ihre Empfindung. Als sie sitzend ihre Knie umarmte, hatte sie das unangenehme Gefühl, der Schatten würde sie von hinten umarmen. Die Illusionen verschwanden, sobald die Stimulation endete.

"Solche außerkörperlichen Empfindungen sind in der Literatur schon häufiger beschrieben worden", sagt Blanke. "Sie treten etwa bei Extrem-Bergsteigern auf, die wochenlang mit wenig Sauerstoff in den Bergen immer nur einen Schritt vor den anderen setzen." Das besondere an der untersuchten Patientin sei aber, dass sie körperlich gesund, psychisch unauffällig und nur wegen der Behandlung ihrer Epilepsie bei den Ärzten war. "In der Übergangsregion zwischen Seiten- und Schläfenlappen werden Informationen über Körperempfindungen verarbeitet", sagt Blanke. Dieser Gehirnbereich sei unter anderem bei der Unterscheidung von "Selbst" und "Anderen" und bei der Vernetzung verschiedener Körpersinneseindrücke beteiligt.

Zwei Wochen lang führten die Hirnforscher verschiedene Tests mit der Patientin durch, ehe sie das Elektrodengitter wieder entfernten. Sie hoffen nun, mit Hilfe dieser und weiterer Untersuchungen mehr über die Mechanismen zu erfahren, die psychiatrischen Störungen wie Paranoia oder Verfolgungswahn zu Grunde liegen.

© SZ vom 21.9.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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