Unbekannte Kopiervorgänge:Komplexe Gengrammatik

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Wird sich unser Bild des menschlichen Erbguts bald komplett verändern? Neue Analysen des Humangenoms werfen Fragen auf.

Hanno Charisius

In der Genomforschung geht es meist um große Zahlen und große Worte. Die Zahlen zeigen, wie viele Gene von wie vielen Forschern neu erfasst worden sind.

Das Genom als Kunstwerk ("Genom", Gregor-Torsten Kozik, 2001): Neue Fragen aufgeworfen. (Foto: Foto: dpa)

Die Worte versprechen ein Verständnis des Lebens im Allgemeinen und die Bekämpfung von Krankheiten im besonderen. Ein an diesem Donnerstag veröffentlichter gemeinsamer Bericht internationaler Forschergruppen liefert erneut Zahlen - aber Worte voller Demut.

Wissenschaftler aus 80 Laboren auf der ganzen Welt haben sich einen Ausschnitt des menschlichen Erbguts vorgenommen und ihn mit beispielloser Gründlichkeit untersucht.

Ihre Ergebnisse lassen ahnen, dass das bisherige Verständnis über die Funktionsweise des Genoms auf den Kopf gestellt werden muss. Die Gene liegen demnach nicht, wie man es in Lehrbüchern lesen kann, ordentlich aufgereiht auf dem Erbgutfaden wie die Perlen einer Kette.

Wie man nun weiß, können sich Gene in weiten Bereichen überlappen, die Maschinerie einer Körperzelle vermag den selben Erbgutabschnitt auf viele unterschiedliche Weisen zu lesen, und das genetische Brachland, das viele Forscher zwischen den Genen vermutet haben, enthält sehr wohl nützliche Informationen.

Die neuen Daten zeigen, dass das Genom kaum ungenutzte Abschnitte enthält, die bekannten Gene liefern demnach nur einen Teil der Informationen, die nötig sind, um aus der DNS-Sequenz ein Leben entstehen zu lassen.

Zusätzliche Abschriften des Erbguts

Das Projektkonsortium mit dem Namen Encode (für: Enzyklopädie der DNS-Elemente) hat zahlreiche, zuvor unbekannte Schalter zur Aktivierung von Genen identifiziert.

Die bedeutsamste Entdeckung aber ist, dass die Mehrzahl der genetischen Bausteine tatsächlich von der Zellmaschinerie gelesen und in Boten-Moleküle, sogenannte RNS, übersetzt wird.

Bislang hatte man diese molekulare Abschrift des Erbguts als Zwischenschritt verstanden, der notwendig ist, um die für den Organismus lebensnotwendigen Eiweißstoffe herzustellen. Den Nutzen dieser zusätzlichen Abschriften kennen die Forscher allerdings noch nicht.

"Als im Jahr 2003 das Genom des Menschen vollständig entschlüsselt war, hat niemand behauptet, dass man jetzt fertig sei", sagt Ewan Birney vom Europäischen Bioinformatik-Institut (EMBL-EBI) im britischen Cambridge, der das Encode-Konsortium leitet.

"Wir hatten die Sequenz, eine lange Folge von genetischen Bausteinen, und uns war klar, dass wir erst lernen müssen, wie das überhaupt funktioniert. Damit haben wir jetzt angefangen und mussten feststellen: Genome sind kompliziert."

Mit einer Reihe modernster Verfahren haben die Forscher etwa ein Prozent des Humangenoms untersucht. Vier Jahre habe das gedauert, sagt Birney, die übrigen 99 Prozent wollen die Forscher aber innerhalb von fünf Jahren bewältigen.

Die Erbgut-Wüste lebt

Nachdem die Analyseverfahren jetzt erprobt seien, hält er das für ein realistisches Ziel. Die Ergebnisse präsentiert das Encode-Konsortium, ein Nachfolger des Humangenomprojekts, das in den 1990er-Jahren angefangen hatte, die Gene des Menschen zu entziffern, in der heutigen Ausgabe des Journals Nature (Bd. 447, S. 799, 2007) sowie in 28 Artikeln der Juni-Ausgabe von Genome Research.

"Die haben buchstäblich jedes Blatt umgedreht", sagt Jürgen Brosius, Genomforscher an der Universität Münster. In dem vom Bundesforschungsministerium mitfinanzierten Nationalen Genomforschungsnetz ist er zuständig für die Analyse der Informationen, die zwischen den bislang bekannten Genen steckt.

"Mir ist schon lange klar, dass das keine Erbgut-Wüste sein kann, wie so oft behauptet wurde." Daher freue er sich darüber, dass nun auch jenen Erbgut-Abschnitten Aufmerksamkeit geschenkt werde, die bislang im Schatten der Gene lagen.

Gleichzeitig warnt er davor, jetzt die Tatsache, dass so weite Bereiche des Erbguts in RNS-Moleküle umgeschrieben werden, zu stark zu bewerten. "Molekularbiologen hätten gerne eine Erklärung für jeden einzelnen Molekularbaustein."

Nicht jede dieser Abschriften müsse jedoch zwangsläufig eine Funktion haben, es könnte sich dabei auch um Überbleibsel der Evolution handeln. Dass die Lehrbücher nun umgehend umgeschrieben werden, glaubt Brosius ohnehin nicht. "So langsam, wie Evolution funktioniert, so langsam verändert sich auch das Denken."

Zwischen den Genen gelesen

Andere Ergebnisse des Encode-Projekts beeinflussen die gängige Sicht auf die Evolution. Etwa die Hälfte der funktionellen genetischen Elemente, die zwischen den bekannten Genen entdeckt wurden, taucht nur im Menschen auf, bei anderen Säugetieren unterscheiden sie sich deutlich.

Von den bislang bekannten Erbanlagen weiß man aber, dass sich jene mit besonders grundlegenden Funktionen im Organismus im Lauf der Evolution nur wenig verändert haben. Einige von ihnen teilt der Mensch deshalb mit den ursprünglichsten Organismen, den Bakterien.

Francis Collins, Direktor des amerikanischen Genforschungsinstituts NHGRI bezeichnet die Veröffentlichung des Konsortiums als Meilenstein. "Die Forschung muss jetzt über ein paar altbekannte Ansichten nachdenken."

Auf den Prüfstand kommen unter anderem die Fragen: Was sind Gene? Wie funktionieren sie? Und wie haben sich die funktionellen Elemente des Genoms im Laufe der Evolution entwickelt? Letztendlich geht es um die Frage, wie aus dem schlichten, fadenförmigen Erbgut-Molekül ein dreidimensionaler Organismus erwachsen kann, der sich fortpflanzt, zum Mond fliegt, liebt und altert.

© SZ vom 14.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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