Tschernobyl:Die Rückkehr der wilden Tiere

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Wölfe, Elche und Luchse siedeln sich langsam wieder in der Todeszone an. Da sie starke Missbildungen aufweisen, streiten sich Forscher, ob die Tiere überleben können.

Wölfe, Füchse, Schlangen und jede Menge Hasen zählt Maria Urupa vor ihrem Haus - mitten in der radioaktiv verseuchten Zone von Tschernobyl. Zwei Jahrzehnte nach der verheerenden Reaktorkatastrophe in der Ukraine seien die Tiere zurück, berichtet die 73-Jährige, die sich wie rund 350 Nachbarn der Evakuierungsorder der Behörden widersetzt hat.´

Für die alte Frau ist die Rückkehr der wilden Tiere in das verstrahlte Gebiet eine Bedrohung, für die Wissenschaft ein weitgehend ungelöstes Rätsel.

Nach der Explosion von Reaktorblock 4 im April 1986, bei der hunderttausende Tonnen radioaktiven Materials in die Luft geschleudert wurden, gingen viele davon aus, dass die Gegend um Tschernobyl auf lange Zeit eine tote Region bleiben würde.

Inzwischen wuchert dichter Wald. Anwohner, Besucher und Biologen haben dort Tiere erspäht, die sonst in weiten Teilen Europas kaum noch zu finden sind. Neben Wölfen, Füchsen oder Rehen haben sich auch Elche oder Luchse in der Zone angesiedelt, in der die Radioaktivität nach UN-Untersuchungen noch immer um das Zehn- bis Hundertfache erhöht ist. Einige Vögel nisten sogar im brüchigen Sarkophag über dem Unglücksreaktor.

Über die Folgen für die Tiere streiten sich die Forscher. Während einige Wissenschaftler nach dem nahezu vollständigen Wegzug der Menschen ein sicheres Rückzugsgebiet für wilde Tiere im Umkreis von Tschernobyl ausmachen, warnen andere vor dem Schluss, die Ansiedlung sei dauerhaft. Die Tiere litten an Missbildungen, und ihre Gesundheit sei derart beeinträchtigt, dass ihr Überleben in Tschernobyl keineswegs gesichert sei.

Sicherer Rückzugsort oder Todesurteil?

Der Biologe Robert Baker von der Technischen Hochschule Texas zählt zu jenen, die das verlassene Gebiet um das Atomkraftwerk als Zufluchtsort für wilde Tiere beschrieben haben. Die Mäuse und andere Nagetiere, die Baker seit Anfang der 90er Jahre untersuchte, zeigten seinen Berichten zufolge eine erstaunliche Fähigkeit, sich der Radioaktivität anzupassen.

Schon vor elf Jahren schrieb Baker im Journal of Mammology, der Super-GAU von Tschernobyl habe weder die Vielfalt noch den Umfang der Nagetierbestände beeinträchtigt. Selbst in den am stärksten radioaktiv belasteten Lebensräumen gebe es ein "dynamisches Ökosystem".

Zwar hätten Gentests ergeben, dass die Tiere nicht frei von Schäden an ihrer Erbsubstanz seien, räumen Baker und Kollegen ein. Insgesamt seien die Bestände jedoch nicht belastet. Nach der Reaktorkatastrophe biete Tschernobyl unter dem Strich ein besseres Umfeld für die Tiere, erklärt Baker.

Ein ganz anderes Bild zeichnet der Biologe Timothy Mousseau von der Universität South Carolina. Die Tiere kämen zwar nach Tschernobyl zurück, hätten aber Schwierigkeiten zu überleben, ist seine Überzeugung. Bei einem großen Teil der von ihm untersuchten Rauchschwalben fand Mousseau Krankheiten und genetische Schäden. In den am stärksten verstrahlten Bereichen seien die Überlebensraten deutlich geringer.

Bei rund einem Drittel von etwa 250 Jungvögeln stellten Mousseau und seine Kollegen verformte Schnäbel, Albinogefieder, verbogene Schwanzfedern oder andere Missbildungen fest. In einem Bericht in der Zeitschrift Biology Letters im März wiesen die Forscher auf elf seltene Missbildungen hin, die ihnen bei den Schwalben von Tschernobyl aufgefallen waren.

Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die verstrahlte Zone als Rückzugsgebiet dient, in dem die Tiere aber schnell wieder aussterben, erklärt Mousseau. "Bei jedem Stein, den wir umdrehen, stoßen wir auf die Folgen der Katastrophe", sagt der Biologe. "Bei den Berichten, dass die Tierbestände in der Region aufblühen, handelt es sich um einzelne Beobachtungen. Sie haben keine wissenschaftliche Grundlage." Mousseau und Baker werfen sich gegenseitig schlampige Arbeit vor.

Während sich die Experten streiten, ärgert sich Maria Urupa über die Wölfe, die ihre Hunde reißen, und die Wildschweine, die durch den Garten trampeln. Vor der Strahlung hingegen habe sie keine Angst, sagt sie. Wie seit eh und je erntet sie Tomaten im eigenen Garten und kauft Fisch aus dem in der Nähe vorbeifließenden Fluss Pripjat.

© Douglas Birch, AP - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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