Trauma und Abhängigkeit:Vom Schock in die Sucht

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Traumatische Erlebnisse führen sowohl bei Männern als auch bei Frauen häufig in die Abhängigkeit. Doch die Auswege sehen bei den Geschlechtern unterschiedlich aus.

Petra Meyer

Die Sucht steckt tief in den Menschen. Sie schadet ihnen ganz offensichtlich, aber dennoch können die Süchtigen nur schwer davon lassen. Dass genetische Faktoren dazu beitragen, wenn Menschen abhängig werden, ist seit längerem bekannt.

Hinter der Sucht stecken häufig traumatische Erlebnisse. (Foto: Foto: ddp)

Neuere Studien nennen aber auch einen anderen Grund, der Menschen in die Sucht treibt: traumatische Erlebnisse, beispielsweise durch Krieg oder sexuelle Gewalt. Solche schockierenden Erlebnisse richtig zu behandeln, wird zusätzlich dadurch erschwert, dass Männer und Frauen grundsätzlich anders damit umgehen.

An der Fachklinik Beusingser Mühle im westfälischen Bad Sassendorf ergab eine interne Studie zu Therapieabbrüchen, dass unter den Abbrechern besonders viele Süchtige mit einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) waren.

Das brachte die Therapeuten darauf, dass es einen Zusammenhang geben muss und diese Patienten anders sind als andere Süchtige. Seither versucht man dort, den Patienten wieder mehr Sicherheit zu geben. "In der Klinik müssen wir jegliche Retraumatisierung vermeiden", sagt Sibylle Teunißen, Leiterin der Fachklinik.

Traumatisierte leiden unter Albträumen und so genannten Flashbacks. Sie vermeiden Situationen, die an das Trauma erinnern, sind übererregt und ängstlich. Um zu vergessen oder die negativen Gefühle zu betäuben, greifen sie oft zu Suchtmitteln.

Ein hohes Risiko tragen vor allem Menschen mit einem komplexen Trauma. Personen also, die bereits in ihrer frühen Kindheit wiederholt und massiv körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt oder beobachtet haben. Stark gefährdet sind zudem Soldaten mit traumatischen Kriegserlebnissen. Etwa ein Drittel aller Traumatisierten entwickelt eine posttraumatische Belastungsstörung.

Zwischen zwölf und 34 Prozent aller Suchtpatienten, die in Behandlung sind, leiden der amerikanischen Forscherin Lisa Najavits zufolge an einer PTBS. Bei Frauen liegt die Rate sogar bei 33 bis 59 Prozent. Im klinischen Alltag ist der Zusammenhang zwischen Sucht und Trauma zwar durchaus bekannt. Dennoch arbeiten die beiden Therapiebereiche in Deutschland noch immer vorwiegend isoliert. Meist wird entweder die Sucht behandelt oder das Trauma.

Elefant auf der Lebensstraße

Bei der Behandlung abhängiger Traumapatienten spielt aber auch ein dritter Faktor eine große Rolle: Frauen verarbeiten Traumata anders als Männer.

"Die Grundreaktion auf ein in der Kindheit erlebtes Trauma ist erst einmal universell", sagt Silke Gahleitner, Traumaexpertin an der Berliner Alice-Salomon-Fachhochschule (ASF), die dieses unterschiedliche Verhalten in einer Studie erforscht hat. "Kleine Mädchen und Jungs reagieren ähnlich. Bald nach dem Geschehen verdrängen und verleugnen sie, was ihnen passiert ist."

Später aber, wenn sich die geschlechtliche Identität stärker ausbildet, zeigt sich der Unterschied. Jungen seien dann eher extrovertiert, Mädchen nach innen gewandt. In der Jugendphase verstärke sich dieses Verhalten. "Die Jungen erzählen oft von Täterphantasien, von aggressiven Bedürfnissen oder ausgelebter Aggression."

Die Mädchen "beschreiben den sexuellen Missbrauch als einen Elefanten auf ihrer Lebensstraße", an dem sie einfach nicht vorbeikämen, sagt Gahleitner: Sie fühlten sich wie gelähmt.

Die Trauma-Expertin zeigte in ihrer Studie, dass Jungen und Mädchen ihre Traumata spürbar besser verarbeiteten, wenn sie dazu in die Rolle des anderen Geschlechts schlüpften. Wenn Jungen sich also plötzlich trauten, über Gefühle zu sprechen. Und wenn die Mädchen Wut, Kraft und Aggression empfanden und so aus Gefühlen ausstiegen, die sie davor oft gegen sich gerichtet hatten.

Frauen und Männer unterscheiden sich aber nicht nur darin, wie sie Traumata verarbeiten, sondern wie und wann sie sie erleben. "In der Kindheit sind kleine Jungs und Mädchen zwar gleichermaßen gefährdet, sexuelle Gewalt zu erleben. Betrachtet man jedoch die gesamte Lebensspanne eines Menschen, sieht das ganz anders aus", sagt die amerikanische Therapeutin Stephanie Covington, die seit vielen Jahren mit süchtigen traumatisierten Frauen arbeitet.

Covington zufolge tragen amerikanische Männer ein hohes Risiko, als Erwachsene bei einem Gewaltverbrechen oder als Soldat traumatisiert zu werden. "Frauen hingegen laufen während ihres ganzen Lebens Gefahr, sexuelle und körperliche Gewalt zu erleben. Fast immer von Männern, die sie lieben."

Suchtphänomene werden bei Frauen häufig unterschätzt

Aber Covington sagt auch: "Je näher der Täter dem Opfer steht, desto schwieriger ist die Heilung." Frauen, die weder Vertrauen noch Bindung erlebt hätten, könnten dann auch zum Therapeuten nur schwer eine Beziehung aufbauen. Sie in der Therapie herzustellen, ist oft schwerer als für Männer, die mehrheitlich durch den gewalttätigen Akt eines Fremden traumatisiert werden.

Die Praxis allerdings ist von einem solchen geschlechtsspezifischen Ansatz weit entfernt. "Wir müssen erkennen, dass Frauen in Suchtprogrammen die schlechteren Karten haben, weil die Konzepte meist auf Alkohol und Männer ausgelegt sind", sagt Silke Gahleitner. 75 Prozent aller Alkohol- und Drogenabhängigen in Deutschland seien männlich. Zudem werden Suchtphänomene bei Frauen häufig unterschätzt, da sie sie oft verheimlichen.

In Traumaprogrammen haben dagegen oft Männer das Nachsehen, weil die Therapie sich vor allem an Frauen orientiert. Von sexueller Gewalt sind zwar mehrheitlich Mädchen und Frauen betroffen. Aber auch viele Jungen werden missbraucht. Eine große deutsche Studie ergab zum Beispiel, dass jeder achte bis zwölfte Junge sexuelle Gewalt erlebt hat. Vielen fällt es aber schwer, den Missbrauch als leidvolle Erfahrung vor sich selbst anzuerkennen.

© SZ vom 02.07.2008/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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