Transplantation:Die Hände eines Fremden

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Der österreichische Polizist Theo Kelz verlor seine Hände, als er versuchte, eine Bombe zu entschärfen. Seit zehn Jahren lebt er mit den Händen eines Toten.

Annett Zündorf

Im April 2000 liegt Theo Kelz auf der Transplantationsstation des Klinikums Innsbruck. Neben seinem Bett stapeln sich Tabletten. Aus seinen verbundenen Unterarmen schauen die Fingerspitzen hervor, mit denen er bald wieder greifen, streicheln und fühlen will.

Im Alter von 47 Jahren hat Theo Kelz ein neues Leben bekommen: Was er betrachtet, sind seine neuen Hände - die Hände eines Toten. Wenige Wochen zuvor haben ihm Chirurgen die Extremitäten angenäht, in einer der ersten Operationen dieser Art auf der Welt.

Seine Geschichte hatte im August 1994 begonnen: Als der Sprengstoffexperte der Klagenfurter Polizei eine Rohrbombe des Serienattentäters Franz Fuchs entschärfen wollte, explodierte sie und riss ihm beide Hände ab. Er überlebte nur, weil ein Kollege die Stümpfe abband und so die Blutung stoppte.

"Ich fordere Sie auf, mir neue Hände zu transplantieren"

Bereits zweieinhalb Monate nach dem Unfall hat Kelz eine Vision: "Ich bin um drei Uhr morgens aufgewacht und habe mich mit zwei neuen Händen gesehen." Noch während er seine ersten Prothesen angepasst bekommt, schreibt er an den Transplantationsspezialisten Raimund Margreiter des Innsbrucker Uniklinikums.

"Der antwortete mir, es sei noch nicht möglich, Extremitäten zu transplantieren", erinnert sich Kelz. Bei mehr als 50 Transplantationszentren in der ganzen Welt fragt er nach - vergebens. "Ich fordere Sie auf, mir neue Hände zu transplantieren", schreibt Kelz dennoch in einem weiteren Brief an Margreiter.

Damals hatte noch kein Chirurg die extrem komplizierte Operation gewagt: Knochen müssen fixiert, Sehnen verbunden, Arterien, Nerven und Venen zusammengenäht werden. Zudem müssen die Ärzte die Hände eines Spenders in kürzester Zeit transplantieren. Nach der Operation drohen Abstoßungsreaktionen und lebensgefährliche Infektionen.

Doch dann, Jahre später, klingelt das Telefon: "Wir haben passende Spenderorgane." Endlich. In der Klinik redet Kelz auf die Ärzte ein, die ihm erst nur eine Hand annähen wollen. "Ich will zwei!" Bei der Untersuchung vor der Operation ist er ruhig, kein Herzrasen, kein erhöhter Blutdruck. "Ich hatte mich sechs Jahre auf diesen Tag vorbereitet", sagt er.

Die Operation beginnt um 7:30 Uhr und dauert 17 Stunden. Als Kelz aus der Narkose erwacht, blickt er zu der Stelle, an der sechs Jahre lang nichts gewesen war. "Von diesem Moment an waren es meine neuen Hände. Ich habe das niemals anders empfunden."

Das Wort fremd will er nicht hören, es sind seine Hände. Über den Spender weiß er ohnehin nichts. Und gar nicht gern hört er die Frage, ob es denn nicht gruselig sei, mit den Händen eines anderen Menschen zu leben. Die Seele verstecke sich doch nicht in Fingern, Knochen oder Haut!

Dabei ist die Frage naheliegend: Anders als Leber oder Niere gehören die Hände zu den Körperteilen, die wir an einem Menschen als Erstes wahrnehmen. Sie sind, ähnlich wie das Gesicht, Teil seiner Identität. Ganze Romane beschäftigen sich mit der Frage, ob mit einer Handtransplantation Eigenschaften des Spenders auf den Empfänger übertragen werden.

In den USA, erzählt Kelz empört, habe es eine solche Untersuchung tatsächlich gegeben: "Die Psychologen wollten so etwas finden wie: Früher hat er keinen Alkohol getrunken, aber jetzt trinkt er ordentlich mal einen."

Über solchen Unsinn zerbricht er sich gar nicht erst den Kopf. Vielleicht kann er deshalb mit Überzeugung sagen: "Einen Psychologen habe ich nie gebraucht und werde ich auch nicht brauchen."

"Man braucht einen starken Willen"

Seine Frau und seine Tochter waren seine Vertrauten, sie haben ihn aufgebaut und ermutigt. "Man braucht einen starken Willen und mentale Vorbereitung. Ich hatte immer dieses Bild von mir mit meinen neuen Händen vor Augen. Das konnte ich jederzeit abrufen", sagt Kelz. "Ich glaube nicht, dass jemand, der einen Psychologen braucht, tatsächlich mit neuen Händen leben könnte."

Seine persönliche Stärke hatte ihm schon bei den Prothesen geholfen, mit denen er sehr gut zurechtkam. Kelz konnte mit ihnen schreiben, essen, sich anziehen und an einem Computer arbeiten.

Er ließ sogar sein Motorrad so umbauen, dass er es mit Prothesen fahren konnte. Wenn da nur nicht die Sehnsucht gewesen wäre: durch das Haar seiner Frau zu streichen, die Zartheit und Wärme ihrer Haut zu spüren.

Nun ist es also soweit. Doch neue Probleme sind zu bewältigen. Denn es genügt nicht, neue Hände zu haben, sondern man muss auch den Umgang mit ihnen wieder erlernen. Nach den sechs Jahren zwischen Unfall und Operation waren die Hände kaum noch in der Großhirnrinde repräsentiert. Werden Bereiche des Gehirns nicht genutzt, verkümmern sie nämlich, benachbarte Körperteile wie die Unterarme übernehmen schleichend diese Areale.

Deshalb entscheidet das Team der Uni Innsbruck, die vom Italiener Carlo Perfetti für Schlaganfallpatienten entwickelten kognitiv-therapeutischen Übungen einzusetzen. "Wir müssen in solchen Fällen das Gehirn gezielt aktivieren", erklärt Susanne Wopfner, Dozentin für neurokognitive Rehabilitation und eine der drei Physiotherapeutinnen, die Kelz behandeln. Eine Bewegung muss das Gehirn planen, aber um sie planen zu können, braucht es Informationen vom Körper und der Umwelt: die Lage der Hand, die Temperatur und die Oberfläche eines Gegenstandes.

Deshalb führt die Physiotherapeutin am Anfang die Hände des Patienten. Sie beginnt mit dem Handgelenk. "Zuerst stellt er sich die Bewegung nur vor. Dann versucht er, die Bewegung zu erspüren und zu sagen, in welche Richtung wir zum Beispiel das Handgelenk bewegt haben", sagt Wopfner. Später hält sie die Finger und streicht mit ihnen über raue Kanten und weiche Flächen. "Damit versuchen wir, Lernprozesse anzuregen.

Erst wenn der Patient fühlen kann und gezielte Informationen ins Hirn gelangen, wird das Planen und Ausführen einer Bewegung möglich." Täglich fünf Stunden übt Kelz, knapp 2000 im ersten Jahr. Wopfner erinnert sich gut an das erste Mal, als er die Kälte eines Glases spürt. Und an den Tag, als er ihr sagt, wie kalt ihre Hände seien. "Für uns ist das Fühlen so selbstverständlich. Jetzt kann er es endlich wieder."

Für Theo Kelz ist das Spüren und Greifen mit den Händen wieder ein normaler Bestandteil seines Lebens geworden. Er kann sich selber die Haare kämmen, den Tisch decken, sein Motorrad putzen. Ein kleines Wunder nach 5000 Stunden Physiotherapie bis heute. Die Erfolge kommen vor allem am Anfang schnell. Ein Jahr nach seiner Transplantation hält Kelz einen Vortrag, in dem er über seine Fortschritte berichtet. Für ungeübte Augen ist an dem großen Mann mit dem schwarzen Bart nichts Auffälliges zu entdecken.

Lange Ärmel verdecken die Operationsnarben, nur am Reißverschluss seines Hemdes hängt ein großer Ring, um das Greifen zu erleichtern. Seine neuen Hände hält er sehr ruhig vor dem Bauch, er gestikuliert möglichst wenig. "Nerven wachsen langsam. Nach so kurzer Zeit ist einfach noch nicht so viel möglich", erklärt Kelz.

Auch Kälte ist kein Problem

Heute funktionieren seine Hände zu etwa 85 Prozent. "Die Feinmotorik fehlt noch etwas. Mir fällt es zum Beispiel schwer, Knöpfe zu schließen." Auch Kälte ist ein Problem, da feinste Blutgefäße auch vom besten Operateur nicht wieder zu vernetzen sind. "Aber ich kann sonst einfach alles machen", sagt Kelz. "Diese Qualität der Bewegung ist sicher nicht für jeden erreichbar", sagt Wopfner, die den starken Willen ihres berühmten Patienten als wichtigsten Grund des Therapieerfolges sieht.

Theo Kelz hat sich sein Leben neu erobert. Er arbeitet wieder als Polizist, koordiniert in der Einsatzzentrale des Landes Kärnten in Klagenfurt die diensthabenden Beamten und nimmt Notrufe entgegen. Vor drei Jahren hat er eine Ausbildung zum Mediator und Konfliktberater abgeschlossen. Er berät jetzt Menschen bei Nachbarschafts-, Familien- und Erbschaftsstreitigkeiten. Auch Motorrad fährt der Zweiradfan wieder.

Nur 18 Monate nach der Transplantation lädt er den Chirurgen Raimund Margreiter auf den Rücksitz seiner 1000er BMW und dreht mit ihm eine Runde durch das Gelände der Innsbrucker Uniklinik. 2006 startet er allein zu einer dreimonatigen Weltumrundung mit dem Motorrad. Er fährt 24800 Kilometer durch Russland, Japan, Kanada und Europa. Fremde bemerken nie, dass sie einen Menschen mit neuen Händen vor sich haben.

Bald wird Theo Kelz ins Krankenhaus Innsbruck zu einer Routineuntersuchung zurückkehren. "Ich habe keine Angst, dass ich von den Medikamenten Krebs oder andere Erkrankungen bekommen könnte", sagt er. Bisher gab es außer einer Abstoßungsreaktion zwei Monate nach der Operation keine Probleme. Heute liegen nur noch eine Blutverdünnungstablette und eine Tablette gegen Abstoßungsreaktionen neben seinem Bett. "Ich fühle mich pumperlgesund."

Der Erfolg der Handtransplantation treibt Kelz an. Gerade ist er von einer USA-Reise zurückgekehrt. Dort hat er auf einem Kongress vor Medizinern und Militärs seine neuen Hände vorgeführt und sein Leben mit ihnen geschildert. "Ich will Leuten, die aus Kriegen zurückkehren, zeigen, welche Möglichkeiten es gibt", sagt Kelz.

Er plant bereits die nächste Motorradreise. Diesmal will er den afrikanischen Kontinent umrunden. Dann kann er die Wärme des Saharasandes fühlen und die Kühle des Ozeans. Er wird die Schwere und das Vibrieren seiner Maschine bis in die Fingerspitzen spüren. 40 Hände wurden bisher weltweit an 32 Patienten übertragen. Die Transplantation der neuen Hände von Theo Kelz ist vermutlich die erfolgreichste.

© SZ vom 08.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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