Technik:Himmelfahrt

Lesezeit: 6 min

Mit moderner Technologie lassen sich immer schnellere, immer wildere, immer irrere Achterbahnen bauen. Die physikalischen Grenzen sind noch lange nicht erreicht, wäre da nicht der Faktor Mensch...

Sie sollen Angst, Lust und Schrecken verbreiten - wie ein Flug in einem Kampfjet oder ein Ritt auf dem Motorrad. Wer in sie einsteigt, will die eigene Feigheit überwinden, die Furcht besiegen und hinterher mit seinem Mut prahlen oder dem Leid kokettieren können.

Achterbahnen spielen mit dem Menschen, seinen Gefühlen, seinem Körper. Sie bringen ihn ans Limit. Nur überschreiten dürfen sie diese Grenze nicht.

Das Spektakel

Mit mehr als 200 Kilometern pro Stunde schickt "Kingda Ka" in New Jersey, derzeit die schnellste Achterbahn der Welt, ihre Fahrgäste auf die Reise.

Steile 65 Meter saust der "Silver Star", Europas höchste Bahn im badischen Rust, in die Tiefe. Und der "Olympia-Looping", der auch dieses Jahr wieder auf dem Oktoberfest Station macht, presst Wagemutige mit mehr als dem Fünffachen ihres Körpergewichts in die Sitze.

Lauter Extreme - und doch machen sie allein noch keine gute Achterbahn aus. "Die ideale Bahn muss die Nerven kitzeln", sagt Harald Wanner vom Ingenieurbüro Stengel in München, das mehr als 500 Bahnen entworfen hat. "Dazu braucht es viele Beschleunigungswechsel."

Denn die reine Geschwindigkeit kann das menschliche Gleichgewichtsorgan gar nicht erfassen, es reagiert nur auf Tempoänderungen und wechselnde Richtungen. "Die Beschleunigungen müssen dabei nicht einmal hoch sein, viel wichtiger sind Anzahl und Abwechslung", sagt Wanner.

Daher versuchen die Entwickler, die Passagiere - trotz Höhe, Geschwindigkeit und dramatischer Streckenführung moderner Anlagen - weniger zu belasten als auf früheren Bahnen.

Die Beschleunigung

Klassische Achterbahnen folgten einem ebenso simplen wie überzeugenden Prinzip: Die Wagen wurden mit einer Kette die erste Rampe hochgezogen, die Spannung stieg, es wurde still und irgendwann, kurz nach dem Scheitelpunkt, ging die rasante Fahrt los.

Die Geschwindigkeit hing dabei einzig von der Höhe des Hügels ab. Heute werden die großen Bahnen wie Raketen aus dem Stand beschleunigt. Eine Leistung von mehr als 13000 PS ist zum Beispiel nötig, um Monsterbahnen wie "Kingda Ka" auf Tempo zu bringen.

Alle Versuche, die Wagen mittels Elektromotoren oder einer Magnettechnik ähnlich dem Transrapid zu beschleunigen, scheiterten bislang am immensen Stromverbrauch - bei Tests brach schon mal das komplette Netz zusammen.

Deshalb setzen die Konstrukteure auf einen Hydraulikantrieb, bei dem Öl unter hohem Druck ein Schwungrad antreibt. Die derzeit schnellste Bahn wird in nur 3,5 Sekunden auf 206 Kilometer pro Stunde beschleunigt, technisch gesehen wären auch mehr als 300 km/h möglich. Dann aber würden Mücken zum Beispiel zu gefährlichen Geschossen.

"Das ist so, als würde man mit offenem Visier Motorrad fahren", sagt Achterbahnbauer Wanner. Schon heute müssen die Entwickler mit aerodynamischen Tricks den Luftstrom über die Wagen lenken. "Das nimmt aber einen großen Teil des Geschwindigkeitsgefühls weg", erklärt Wanner.

Die Kräfte

"Die Belastungen, denen wir Passagiere aussetzen können, stellen die Grenzen für den Bau einer Bahn dar", sagt Achterbahn-Konstrukteur Wanner.

Bereits während der Entwicklung, wenn die Bahn Stück für Stück am Computer entsteht, werden mit biomechanischen Modellen die maximalen Belastungen bestimmt.

Für jeden Streckenzentimeter können die Konstrukteure alle relevanten Kräfte ermitteln und falls nötig anpassen; mehrere 10000 Seiten nehmen die Berechnungen einer Bahn ein.

Wurden Passagiere in den 80er-Jahren noch mit dem Siebenfachen des eigenen Körpergewichts in die Sitze gepresst (Physiker sprechen von 7G), beschränken sich die Konstrukteure heute auf 5 G, berichtet Michael Mack vom Achterbahnbauer Mack Rides.

Wichtig sei zudem die Dauer der Belastung - länger als eine Sekunde wollen die Entwickler ihren Fahrgästen die extreme Belastung nicht zumuten.

Kräfte von 4G dürfen bis zu zwei Sekunden lang an den Passagieren zerren. Zwar kann der Körper auch höhere Beschleunigungen verkraften, allerdings nur über einen sehr kurzen Zeitraum.

Im Alltag können, wie Ingenieure der Beratungsfirma Exponent im Auftrag eines amerikanischen Parkbetreibers ermittelt haben, kurzzeitig sogar extremere Belastungen auftreten - etwa beim schwungvollen Hinsetzen.

Die Schiene

Je extremer die Richtungswechsel einer Bahn sein sollen, desto genauer muss die Schiene den berechneten Vorgaben folgen - andernfalls könnten die Belastungen auf die Passagiere stärker ausfallen als von den Konstrukteuren simuliert.

Achterbahnbauer wie die Firma Mack Rides im südbadischen Waldkirch vertrauen deshalb auch die Fertigung dem Rechner an: Die Daten aus dem Computer - mehr als 500 errechnete Punkte für einen zwölf Meter langen Schienenrohling - werden direkt an die Biegemaschine weitergegeben, die die Stahlrohre in Form bringt.

Die parallel verlaufenden Rohre werden in der Werkshalle mikrometergenau in Gestelle eingespannt, provisorisch geheftet, mit einem Laser vermessen, bei Bedarf neu ausgerichtet und anschließend verschweißt. Erst vor Ort werden die Segmente dann zur Achterbahn zusammengeschraubt; ein testweiser Aufbau auf dem Werkshof - früher Routine - ist nicht mehr nötig.

"Das neue Verfahren ist nicht nur schneller und preiswerter, die Bahnen sind auch angenehmer zu fahren", sagt Achterbahnbauer Michael Mack. Und es ermöglicht zuvor ungeahnte Höhenrekorde: "Wenn Sie in 140 Meter Höhe was montieren müssen, kann man niemand mit der Flex raufschicken, um eine Schiene zu kürzen", erklärt Konstrukteur Wanner. "Dann muss es einfach passen."

Der Körper

"Technisch lässt sich so gut wie alles umsetzen, was die Fahrgäste ertragen", sagt Harald Wanner vom Ingenieurbüro Stengel.

"Einzig der Passagier ist das Limit." Und das gleich in zweifacher Hinsicht: Zum einen darf die Vertikalbeschleunigung, die den Passagier in den Sitz drückt, nicht zu extrem werden.

"3,5 G über zwölf Sekunden, wie wir es Mitte der 80er-Jahre versucht hatten, findet keiner mehr angenehm", sagt Wanner. "Da wird die Luft aus den Lungen gepresst, man hat keine Chance mehr zu atmen." Das Blut sammelt sich in den Beinen, die Sauerstoffversorgung der Augen leidet.

Würde die Belastung noch größer, könnten die Passagiere keine Farben mehr sehen. Es drohte der Tunnelblick und irgendwann würde es schwarz vor Augen: Bewusstlosigkeit. Noch gefährlicher sind abrupte Bewegungen nach links und rechts; sie können Hals-, Kopf- und Nackenverletzungen auslösen.

Im Ingenieurbüro Stengel orientiert man sich daher an der "Herzlinie": Die Schiene wird so konstruiert, dass der Kopf bei einer Drehung der Bahn nicht zur Seite geschleudert wird.

Die Querbeschleunigung auf den Fahrgast kann dadurch um 75 Prozent reduziert werden. "Wir müssen nicht die Bahn glatt machen, sondern die Bewegung der Passagiere", sagt Konstrukteur Wanner.

Die Gefahr

"Für gesunde Menschen dürfte die Fahrt mit einer Achterbahn sicherer sein als die Anreise in den Vergnügungspark", sagt Douglas Smith von der University of Pennsylvania. Der Neurochirurg hat Größe, Richtung und Dauer der Kräfte berechnet, die während einer typischen Achterbahnfahrt auf den menschlichen Körper wirken.

Dabei machte Smith zwei potenzielle Gefahren aus: Zum einen könnten - falls Passagiere aufgrund zu hoher G-Kräfte das Bewusstsein verlieren - Kopf und Gliedmaßen außer Kontrolle geraten und verletzt werden.

Bewusstlosigkeit hält Smith aber für unwahrscheinlich: Die bislang gebauten Bahnen könnten allenfalls kurzzeitigen Schwindel hervorrufen - wie er auch beim schnellen Aufstehen vom Sofa entstehen kann. Das zweite mögliche und auf dem Papier eindeutig größere Risiko sind für Smith die schnellen Hin-und-her-Bewegungen des Kopfs infolge von Richtungswechseln der Bahn.

Doch auch diese Belastungen liegen derzeit deutlich unter den Grenzwerten, berichtet der Forscher. "Die Beschleunigungen, bei denen die weiße Masse im Gehirn beschädigt werden könnte, sind 18-mal so groß wie die maximal gemessenen Achterbahnwerte."

Die Angst

Achterbahnen dürfen nicht gefährlich sein, sie sollen aber genau diesen Eindruck erwecken. "Die Unsicherheit muss in den Köpfen entstehen", sagt Michael Mack, "die Gefahr wird suggeriert." Deshalb ist die Warteschlange der idealen Bahn auch mindestens 15 Minuten lang.

Der Passagier soll Zeit haben, auf das fragil wirkende Stahlgerüst zu starren. Er soll an der Sicherheit der schmalen Haltebügel zweifeln, er soll sich überlegen, ob er in letzter Minute nicht die Fluchtmöglichkeit wählt - und dann doch einsteigen. Geschwindigkeit, Höhe, aneinander vorbeirasende Züge, erzeugen eine wohl-dosierte Stresssituation: Die Nebennieren setzen Adrenalin frei, im Gehirn erzeugen Endorphine einen rauschähnlichen Zustand.

Die Wahrnehmung ist eingeschränkt, das Herz pocht. "Verspürt jemand bei der Achterbahnfahrt keine Angst, bringt es ihn um einen Teil des Vergnügens", sagt Konstrukteur Wanner. Zu hoch, zu schnell, zu bedrohlich darf die

Konstruktion aber auch nicht erscheinen - sonst gewinnt die Angst und der Mensch macht einen Bogen um die Bahn.

Die Zukunft

Höher, wilder, schneller - das Limit des technisch Machbaren ist beim Achterbahnbau noch lange nicht erreicht. Grenzen setzen allein der benötigte Raum, die Baukosten und eben der menschliche Körper.

"Es kann nicht im Interesse eines Parkbetreibers sein, eine Bahn aufzustellen, für die man erst einen Gesundheitscheck durchlaufen muss", sagt Michael Mack, dessen Familienbetrieb den Europapark Rust betreibt. Wenn sich nur wenige Besucher die Fahrt in einer Mega-bahn zutrauen, lohnt sich deren Bau nicht mehr.

Aber auch die Fahrfiguren, deren Mix das Kribbeln im Bauch erzeugt, sind ausgereizt - sogar vom Kunstflug haben sich die Entwickler inspirieren lassen. "Es lässt sich kaum noch etwas Neues einführen", erklärt Entwickler Wanner, "höchstens durch die Abfolge verschiedener Fahreffekte."

Die Entwickler setzen daher zunehmend auf die Thematisierung ihrer Anlagen, auf optische und akustische Reize. Michael Mack spricht vom "Gesamterlebnis" Achterbahn. "Und das", sagt er, "kann viel stärker wirken als einfach nur ein weiterer Looping."

© SZ Wissen 11 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: