Superschnelle Erdstöße:Tödlicher als im Lehrbuch

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Erdstöße breiten sich viel schneller aus, als bisher angenommen. Nach dem verheerenden Beben in Peru sehen Geologen nun San Francisco, Los Angeles und Istanbul in Gefahr.

Axel Bojanowski

18. April 1906, Morgendämmerung in Kalifornien. Auf 1280 Kilometern bricht die Erdkruste entlang des San-Andreas-Grabens, einer von Norden nach Süden verlaufenden Nahtzone im Boden. Der Riss ist stellenweise 500 Meter breit. Das Erdbeben versetzt Straßen und lässt tausende Häuser einstürzen. In San Francisco sterben etwa 3000 Menschen. Örtlich erreicht das Beben eine Wucht, die bis heute unerklärlich scheint: Entlang des Grabens katapultiert es auf einer 70 Meter breiten Schneise hunderte Bäume aus dem Boden. Es habe ausgesehen, als ob ein Mähdrescher die Wälder abrasiert habe, berichten Augenzeugen.

Jetzt liefern Wissenschaftler eine beängstigende Erklärung für die außergewöhnliche Zerstörungskraft: Der Boden könne bei einem Erdbeben doppelt so schnell aufreißen wie vermutet - entsprechend mehr Energie würde frei, warnt die Seismologin Shamita Das von der Universität Oxford im Wissenschaftsblatt Science (Bd. 317, S. 889, 2007).

Ein Erdbebenbruch kann sich den neuen Erkenntnissen zufolge mit 20.000 Kilometern pro Stunde fortpflanzen. Die Entdeckung hat ernste Konsequenzen: In Großstädten wie San Francisco, Los Angeles oder Istanbul, die von Gesteinsnähten durchzogen sind, würden bei einem starken Beben größere Schäden als befürchtet drohen, mahnt Shamita Das. Würden die Baunormen nicht verschärft, könnten im Ernstfall Hochhäuser-Reihen wie Dominosteine einstürzen.

"Das Tempolimit für Erdbeben existiert nicht"

Die neue Erkenntnis widerspricht einem Grundgesetz der Erdbebenforschung. Demnach setzen die bei einem Beben frei werdenden Erschütterungswellen dem Gesteinsbruch ein Tempolimit von etwa 10.000 Stundenkilometern: Der Riss in der Erdkruste kann den sogenannten Scherwellen nicht davoneilen, lautet ein Lehrsatz der Geophysik. Doch ein Starkbeben in Tibet vor sechs Jahren brachte das Dogma ins Wanken. Die Auswertung der Daten offenbare, dass die Erdkruste in Tibet schneller aufgerissen sei, als es das Lehrbuch vorsieht, berichten Forscher um Harsha Bhat und James Rice von der Harvard-Universität im Journal of Geophysical Research (Bd. 112, S. B06301, 2007). "Das Tempolimit für Erdbeben existiert nicht", meint auch der Seismologe Rainer Kind vom Geoforschungszentrum Potsdam.

Laborversuche und Computersimulationen zeigen, wie ein Hochgeschwindigkeitsbeben entstehen könnte: Zunächst reiße das Gestein quasi mit angezogener Handbremse auf, berichtet Harvard-Forscher Eric Dunham in einer Studie, die in Kürze im Journal of Geophysical Research erscheinen wird. Die Bruchfront lade sich dabei mit hoher Spannung auf. Die Zone hoher Spannung presche vor - und erzeuge einen "Tochter-Riss", der dem "Mutter-Riss" vorauseile.

Allerdings müssten einige Bedingungen erfüllt sein, damit der Spannungsüberschuss an der Bruchspitze enteilen kann, so Shamita Das in Science. Risse könnten nur dort auf Hochgeschwindigkeit beschleunigen, wo die Erdbeben-Naht lange geradeaus verlaufe. Diese Voraussetzung sei nur erfüllt, wo zwei Erdplatten aneinander vorbeischrammten, etwa in Kalifornien, in Tibet oder in der Türkei.

Viele Erdbeben ereignen sich hingegen dort, wo sich Erdplatten übereinander schieben - wie auch das katastrophale Beben, das gerade Peru erschütterte. Das Tsunami-Beben von Indonesien an Weihnachten 2004 entstand ebenfalls an einer solchen "Verschluckungszone", wo die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Brüche begrenzt zu sein scheint. Der Riss des Tsunami-Bebens breitete sich mit nur 9000 Kilometern pro Stunde aus.

Erdbeben, die sich besonders schnell ausbreiten, seien eine bislang unterschätzte Gefahr, schreibt Shamita Das. Denn ein Hochgeschwindigkeitsriss sende Schockwellen in die Umgebung - der Boden zerspringe wie eine Glasscheibe: Nach dem Erdbeben von Tibet 2001 entdeckten Forscher noch in fünf Kilometern Entfernung vom Hauptbruch Dutzende von frischen Erdspalten, die parallel zum Hauptbruch verliefen. "Ein Indiz für ein Super-Speed-Beben", vermutet auch Harvard-Seismologe James Rice.

"In der Nähe von Erdbeben-Nähten sollte nicht gebaut werden."

Andere Experten wie der Geologe Bernhard Stöckhert von der Universität Bochum halten die Theorie für "spekulativ". "Ich bezweifle, ob ein schnellerer Bruch tatsächlich einen großen Effekt hat", sagt Stöckhert. "Wenn die Auswirkungen so dramatisch sind, hätte man mehr Spuren solcher Ereignisse finden müssen", gibt Stöckhert zu bedenken. Eric Dunham indes will in seiner zur Veröffentlichung anstehenden Studie bewiesen haben, dass Hochgeschwindigkeitsbeben unerwartet heftige Bodenbewegungen auslösen können. "Die Moral der Geschichte lautet daher", resümiert die Seismologin Susan Hough vom Geologischen Dienst der USA: "In der Nähe großer Erdbeben-Nähte sollte nicht mehr gebaut werden."

© SZ vom 17.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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