Statistik:Unwahrscheinlich positiv

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Ganz legale Tricks: Wie Zahlen so präsentiert werden, dass sogar Experten die falschen Schlüsse daraus ziehen.

Von Klaus Koch

Um ein Medikament anzupreisen, holen die Hersteller gerne große Zahlen vom Himmel. Atorvastatin etwa soll laut einer Studie die Herzinfarktrate um 37 Prozent verringern.

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Das Mittel wurde an 2838 Diabetikern erprobt. Vier Jahre lang erhielten 1410 Patienten ein Placebo. 9,0 Prozent dieser Gruppe erlitt in der Zeit einen Infarkt. Die anderen 1428 Patienten wurden mit dem Medikament behandelt. Von ihnen hatten 5,8 Prozent einen Infarkt. Insgesamt hatte die Therapie also bei 3,2 Prozent der Probanden einen Herzinfarkt verhindert.

Die Pharmafirma führt lieber die eindrucksvollere Zahl von 37 Prozent an, unterschlägt dabei aber, dass sich diese ausschließlich auf Patienten bezieht, die in den kommenden vier Jahren ohne das Medikament einen Herzinfarkt erleiden würden. Von 500 Patienten, die vier Jahre lang täglich Atorvastatin schluckten, hatten also nur 16 einen Nutzen.

Ein Wundermittel entsteht: Relative oder absolute Veränderung?

Prozentuale Darstellung anhand von 1000 Testpersonen Testperson nahm Medikament (hellgrün) Testperson nahm Placebo (dunkelgrün) Testperson bekam Herzinfarkt (schwarz) Testperson, bei der durch Einnahme des Medikaments ein Infarkt verhindert wurde - 3,2 Prozent der Patienten: 16 der 500 Testpersonen in der Medikamenten-Gruppe (rosa) Testpersonen, auf deren Basis die Pharmafirma die Wirksamkeit ihres Medikaments berechnet hat. Nur anhand dieser geringen Bezugsgröße kann ein eindrucksvoller Wert wie die angeführten 37 Prozent errechnet werden. (ocker)

Joel Best war offenbar der Erste, der richtig nachgedacht hat. "Jedes Jahr seit 1950 hat sich die Zahl der erschossenen Kinder in den USA verdoppelt", las der amerikanische Buchautor 1995 in einer Studie und kürte diese Aussage umgehend zur "übelsten Statistik aller Zeiten". Selbst wenn 1950 nur ein einziges Kind durch die Kugel einer Pistole gestorben wäre, sagte sich Best, müssten bei einer jährlichen Verdopplung 45 Jahre später daraus mehr als 35 Billionen Opfer pro Jahr geworden sein - fast das 6000fache der Weltbevölkerung. Ein Jahr lang hatte die Horrorbilanz zuvor in den USA die Runde gemacht. Selbst Wissenschaftler hatten sie als schlagkräftiges Argument für eine Verschärfung der amerikanischen Waffengesetze gesehen. Die Absurdität dieser Statistik war bis dahin nicht aufgefallen. "Verdoppelt" klingt eben überschaubar. Doch wenn man etwas verdoppelt, das Ergebnis dann wieder verdoppelt und das weitere 43 Mal wiederholt, wird auch aus einer vermeintlich überschaubaren Zahl eine absurd große Summe.

Der Fehler, der die Kindermord-Statistik grotesk verzerrte, war ganz banal. 1994 noch hieß es in einer Veröffentlichung, dass sich "seit 1950" die Zahl der erschossenen Kinder in den USA verdoppelt hatte. Dann machte jemand einen Fehler - ob aus mangelndem Verständnis oder um die Geschichte auszuschmücken, ist unbekannt. Doch das Problem ist, dass sich das Argument in Vorträgen, Büchern und Artikeln ausbreiten konnte, ohne sofort als wahnwitzig entlarvt zu werden.

Die "übelste Statistik aller Zeiten" enthüllt daher vor allem das verkorkste Verhältnis zwischen Mensch und Zahl. Ähnlich peinliche Pannen und handfeste Fehlschlüsse verdrehen mitunter Zusammenhänge, gerade bei vermeintlich einfachen Zahlen. "Statistiken werden oft so wiedergegeben, dass die meisten Menschen sie falsch verstehen", sagt Gerd Gigerenzer vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Das versteht der Psychologe nicht als Bestätigung des Ausspruchs: Glaube nur einer Statistik, die du selbst gefälscht hast. "Nein, es besteht ein Zusammenhang zwischen Zahlen und einem blinden Fleck unserer Wahrnehmung", sagt er. Oft bilden wir uns ein, wir hätten verstanden, was eine Statistik aussagt, und tappen gerade deswegen in die Falle.

Zahlen treffen einen blinden Fleck unserer Wahrnehmung

Relative Wahrscheinlichkeiten können Klarheit verhindern Die Argumentation mit Prozentzahlen verschleiert die Probleme einer Methode.1000 Frauen zwischen 50 und 70 Jahren nehmen an einem Mammographie-Screening teil. Für jede dieser Frauen liegt die Wahrscheinlichkeit, an Brustkrebs erkrankt zu sein, bei 0,6 Prozent. Wenn eine Frau Brustkrebs hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit 66,6 Prozent, dass dies in ihrem Mammogramm auch entdeckt wird, dieses also positiv ausfällt. Wenn eine Frau jedoch keinen Brustkrebs hat, beträgt die Wahrscheinlichkeit 5 Prozent, dass ihr Mammogramm dennoch positiv ausfällt.Wie hoch ist also die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau mit einem positiven Mammographie-Befund tatsächlich an Brustkrebs leidet?Die Antwort klingt verblüffend, die Wahrscheinlichkeit liegt bei nur 7,4 Prozent.* Werden natürliche Häufigkeiten angegeben, ist die Darstellung wesentlich verständlicher. * * Der Anteil der richtig-positiven Ergebnisse an allen Befunden kann zwischen 5 und 30 Prozent liegen, da diese Werte in verschiedenen Quellen variieren. (Foto: N/A)

"Zahlenblindheit" nennt Gigerenzer das Phänomen: Es ist weit verbreitet, und auch Berufsgruppen wie Ärzte, Juristen und Finanzexperten, die täglich sicher mit Zahlen arbeiten sollten, verdrehen Zusammenhänge gelegentlich. Diese Zahlenblindheit hat Folgen. Denn Statistiken sind längst so alltäglich geworden wie Fotos und Texte. In Zeitungen, Radio und Fernsehen wimmelt es von Umfrageergebnissen, von Wirtschaftsdaten, Arbeitslosenquoten und Verbrechensstatistiken.

Wie leicht wir auf dem Zahlen-Glatteis ins Schlittern geraten, zeigt sich am deutlichsten, wenn es um unsere Gesundheit und deren vielfältige Bedrohungen geht. Ein ganz normales Beispiel aus einer Tageszeitung: "In Zeiten starker Luftverschmutzung sterben 46 Prozent mehr Patienten an herzbedingten Problemen", wird ein Athener Wissenschaftler zitiert. Mancher Leser ist da beeindruckt, bis er versucht zu schätzen, wie viele Menschen in einer Millionenstadt wie Berlin bei Smog einen Infarkt erleiden. Dutzende? Hunderte? Tausende? Erst wer mit solchen Überlegungen beginnt, stellt fest, dass ihm bei diesem Beispiel entscheidende Informationen vorenthalten wurden; genau das verzerrt die Wahrnehmung. Immerhin hat der Epidemiologe Demosthenes Panagiotakos von der Universität Athen, von dem das Zitat stammt, im November 2003 auf einem amerikanischen Herzspezialistenkongress seinen Zuhörern die fehlenden Informationen geliefert: In Athen sterben normalerweise 35 Menschen pro Tag an einem Herzinfarkt. Und: Die griechische Hauptstadt hat ungefähr 4,5 Millionen Einwohner.

Wer den Taschenrechner zückt, findet heraus, dass an einem durchschnittlichen Tag von einer Million Athenern acht an einem Infarkt sterben. Wenn diese Rate bei Smog um 46 Prozent steigt, sind das also etwa drei bis vier Tote mehr pro einer Million Einwohner - das entspricht etwa 0,0003 Prozent. Plötzlich ergeben sich zu einem Phänomen - "Herzinfarkt bei Smog" - zwei dramatisch unterschiedliche Angaben, die wir intuitiv völlig unterschiedlich bewerten: Bei einer Zunahme des Risikos um 46 Prozent ist man geneigt, mit dem Nachbarn Streit darüber anzufangen, dass er wieder einmal mit dem Auto zum Bäcker fährt. Bei einer Steigerung um 0,0003 Prozent erscheint solch eine Diskussion ziemlich spitzfindig.

Dabei ist keine der beiden Angaben falsch. Sie unterscheiden sich nur durch ihren Bezugsrahmen: Maßstab für die 46 Prozent - Experten sprechen von relativem Risiko - ist jene kleine Gruppe von 35 Athenern, die an einem normalen Tag an einem Infarkt stirbt. Maßstab für die 0,0003 Prozent sind aber alle 4,5 Millionen Einwohner der Stadt. Aus Sicht eines Zeitungslesers beschreibt nur die letzte Zahl die eigene Bedrohung, die Erhöhung seines Risikos. Tückisch wird die Verwendung des relativen Bezugsrahmens aber, weil gerade bei der Schilderung von Gesundheitsgefahren selten ausgesprochen wird, wer gemeint ist. Wir beziehen solche Angaben intuitiv auf uns: Große Zahlen wie 46 Prozent wirken dann bedrohlich.

Tatsächlich sind Prozentangaben eine wertlose Information, wenn die Bezugsbasis fehlt: Wer an der Börse einen Gewinn von 46 Prozent einstreicht, aber nur 100 Euro investiert hat, kann sich davon ein Abendessen beim Italiener leisten. Wer 100.000 Euro angelegt hat, kann dagegen ein Jahr Urlaub in Italien machen. "Wenn der Bezugsrahmen unterschlagen wird, nimmt uns das die Möglichkeit, uns selbst ein Urteil zu bilden, was wir für wichtig halten", sagt Gigerenzer.

Eigentlich sollen Statistiken aber genau das leisten: helfen herauszufiltern, was wichtig ist, um vernünftige Entscheidungen zu treffen. Politiker und Behörden müssten etwa anhand der Zahlen zu den Risiken, die von Smog ausgehen, beschließen, ob Fahrverbote oder strengere Abgasgrenzwerte nötig sind. Gerade im Gesundheitsbereich gerät eine Statistik, die ohne Bezugsrahmen präsentiert wird, leicht zur Manipulation. Die Werbung für Medikamente arbeitet gern mit diesem Trick. Relative Prozentangaben sind eines der liebsten Argumente der schätzungsweise 15000 Pharmavertreter, die täglich zu Verkaufsgesprächen in deutsche Arztpraxen aufbrechen. Wer einen Mediziner überzeugen will, zum Beispiel den Cholesterinsenker Atorvastatin zu verschreiben, kann auf Studien zurückgreifen, denen zufolge das Medikament die Infarktrate um 37 Prozent gesenkt habe. Eher im Kleingedruckten finden sich dann absolute Zahlen: Ohne das Medikament haben innerhalb von vier Jahren 45 von 500 Patienten einen Infarkt erlitten. Von 500 Patienten, die die Arznei genommen haben, waren es 29. Insgesamt hatte die Therapie also bei 16 von 500 Patienten einen Infarkt verhindert, die absolute Infarktrate also nur um 3,2 Prozent gesenkt. Das hat Folgen: Die Darstellung der Zahlen, die Pharmavertreter aus ihrer Aktentasche ziehen, beeinflusst die Bereitschaft von Ärzten, ein Medikament zu verschreiben, ganz erheblich (siehe Tabelle).

Auch Mediziner springen selbst immer wieder geschmeidig zwischen den Bezugsrahmen hin und her - wenn sie ihre Patienten von Maßnahmen überzeugen wollen, die sie selbst für vernünftig halten, zum Beispiel regelmäßige Röntgenuntersuchungen zur Früherkennung von Brustkrebs. Derzeit laufen in Deutschland Vorbereitungen, den knapp elf Millionen Frauen im Alter zwischen 50 und 69 Jahren alle zwei Jahre eine Einladung zu einer Mammographie zu schicken. Erklärtes Ziel ist, dass mindestens sieben von zehn Frauen die Einladungen annehmen. In Broschüren, mit denen Krankenhäuser oder Institutionen wie die Deutsche Krebshilfe Informationen zur Mammographie verbreiten, wird ebenfalls bevorzugt mit relativen Wahrscheinlichkeiten gearbeitet.

Stephanie Kurzenhäuser vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat 27 solcher Broschüren untersucht. Keine klärte die Frauen über ihr reales Brustkrebsrisiko auf. Wenn der Nutzen der Mammographie beschrieben war, dann nur durch die Angabe der relativen Verringerung des Risikos: "Das Risiko, an Brustkrebs zu sterben, wird durch die Teilnahme am Mammographie-Screening um 25 Prozent verringert", lautet ein typischer Satz. Weil jede Frau diese Aussage unwillkürlich auf sich bezieht, klingt dies wie das Versprechen, dass von 100 Frauen, bei denen Ärzte in der Vorsorgeuntersuchung etwas finden, 25 vor ihrem sicheren Tod gerettet werden. Da scheint es schiere Unvernunft zu sein, nicht zur Mammographie zu gehen.

Wie die Bilanz hingegen in absoluten Zahlen ausfällt, beschreibt eine Broschüre, die das "Nationale Netzwerk Frauen und Gesundheit" vor kurzem veröffentlicht hat. Sie erklärt anhand konkreter Zahlen: Nur wenige Frauen müssen damit rechnen, dass bei einer Mammographie Brustkrebs entdeckt wird (siehe Tabelle). Noch kleiner ist das Risiko, innerhalb der nächsten zehn Jahre tatsächlich an einem Tumor zu sterben: Von 1000 Frauen zwischen 50 und 70 Jahren sterben etwa acht innerhalb einer Dekade an Brustkrebs. Gingen alle 1000 Frauen regelmäßig zur Mammographie, würde sich die Zahl der Brustkrebstoten in dieser Zeit auf sechs von 1000 Frauen verringern.

Das ergibt die relative Verringerung um 25 Prozent - statt acht sterben nur sechs Frauen. Doch in absoluten Zahlen ausgedrückt ziehen von 1000 Frauen zwei einen Nutzen aus der Mammographie. Auf alle Teilnehmerinnen der Vorsorgeuntersuchung bezogen, entspricht das 0,2 Prozent. Der wirkliche Nutzen erscheint so um mehr als den Faktor 100 kleiner. Wenn aber der positive Effekt derart schrumpft, bekommen auch Fehldiagnosen, mit denen man bei einer Mammographie immer rechnen muss, eine beachtenswerte Größenordnung. "Wenn man will, dass Frauen sich aus freien Stücken für oder gegen eine Mammographie entscheiden, darf man ihnen solche Informationen nicht vorenthalten", sagt deshalb Ingrid Mühlhauser von der Universität Hamburg, die die Autoren der Netzwerk-Broschüre beraten hat. Bislang ist allerdings offen, mit welchen Informationen die Frauen zu der Vorsorgeuntersuchung eingeladen werden - ob man ihnen das Krankheitsrisiko als relative Wahrscheinlichkeit oder absolute Zahl präsentiert.

Literaturtipp

Gerd Gigerenzer: Das Einmaleins der Skepsis Berliner Taschenbuch Verlag, 2004, 10,50 Euro

© SZ Wissen vom 30.4.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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