Spieltrieb:Mensch ändere Dich

Lesezeit: 5 min

Kinder spielen nicht nur zum Spaß. Das Verhalten hat offenbar einen ernsthaften Sinn: Es hilft, das Leben in der komplexen Welt zu meistern.

Hubertus Breuer

Mitten in Massachusetts regiert der Wilde Westen. Die Schulkinder der Lexington Montessori Grundschule haben in den nahen Wäldern etwa ein Dutzend Lager aus Ästen, Blättern, Plastikplanen und Strandgut gebaut. Die Unterstände gleichen Wigwams, doch die Kinder nennen sie großmächtig Forts.

Beim spielen haben Kinder nicht einfach nur Spaß. (Foto: Foto: AP)

Dort erleben die Banden sechs- bis neunjähriger Jungen und Mädchen in schulfreien Stunden imaginäre Abenteuer fern der Erwachsenenwelt. Sie träumen auf Bäumen, verstecken sich im Unterholz, und etablieren kleine Fürstentümer inklusive Oberhaupt. Mit den anderen Lagern handeln sie - als Währung dienen meist handliche Stecken -, und manchmal bestehlen sie sich auch.

Ein sechsjähriger General

Doch wie der Montessori-Lehrer Mark Powell vor kurzem im Journal Children, Youth and Environments berichtete, geriet das Märchenreich im September 2000 für einige Zeit aus den Fugen. Ein Lager, angeführt von einem sechsjährigen, sich wie Napoleon gerierenden "General", begann Krieg zu führen. Die Bande verbündete sich mit Nachbarforts, spionierte andere aus und griff sie an.

Der Dreikäsemob brach Allianzen, zerstörte Lager und schreckte vor Handgreiflichkeiten nicht zurück. Die anderen Banden setzen sich in Scharmützeln zur Wehr, Blut floss. Erst kurz vor dem Weihnachtsfest kehrte mit dem ersten Schnee und einem von Erziehern und Eltern vermittelten Waffenstillstand wieder Ruhe ein.

"Der Mensch ist nur ganz da Mensch, wo er spielt", sagte Schiller. Das mag angesichts eines Schlachtfelds voller Halbwüchsiger ernüchternd wirken. Dennoch bleibt die Rolle des Spieltriebs für die Spezies Mensch eine spannende Frage.

Forscher sind sich bis heute nicht einig darüber, was Fußball, Malen nach Zahlen oder "Mensch ärgere Dich nicht" zur geistigen Entwicklung eines Kindes beitragen. Was helfen ihm kriegerische Phantasien, zu der reale Drohungen, Betrug, Diebstahl, emotionale wie körperliche Wunden gehören? Auch, welchen evolutionären Wettbewerbsvorteil das scheinbar sinnlose Spielverhalten für Affen oder Hunde hat, ist keineswegs ausgemacht.

"Dennoch", stellt der emeritierte Psychologe Rolf Oerter von der Universität München fest, "ergänzen sich die Erkenntnisse der Verhaltensforschung, Humanpsychologie und Neurobiologie seit einigen Jahren zunehmend. Spielen hilft womöglich, die Flexibilität zu gewinnen, um im späteren Leben mit verschiedensten Situationen zurechtzukommen."

Der Spieldrang ist den meisten Säugetieren angeboren; auch bei einigen Vogelarten findet er sich und sogar Schildkröten schlagen mitunter mit einem Ball die Zeit tot. Will ein Tier mit anderen Unsinn treiben, geht das mit Gesten und Mimik einher, die auch eine scheinbar aggressive Gebärde als Spaß erkennbar machen.

So geben Menschenaffen mit einem aufgerissenen Maul und sichtbaren Zähnen ihre Bereitschaft kund, Schabernack zu treiben - und auch Menschenkinder setzen lachend Spielgesichter auf. Tiere halten sich außerdem an Verhaltensregeln. Ein Hund zeigt bei Nackenbiss Beißhemmung, Katzen lassen ihre Krallen eingezogen. Beim Scheinkampf, dem junge Ratten, Löwen oder Füchse gerne frönen, wechseln sich zudem Jäger und Gejagte in ihren Rollen ständig ab.

Kinder als allmächtige Schöpfer

In der Vergangenheit äußerten Experten oft die Ansicht, der biologische Zweck hinter dem vergnüglichen Zeitvertreib sei das Üben des bitteren Ernsts des Erwachsenenlebens: Beute jagen, sich vermehren und gute Nachbarschaft pflegen. Die Trainingshypothese wird jedoch inzwischen skeptisch betrachtet.

So ließ der Psychologe Tim Caro von der University of California in Davis eine Gruppe Kätzchen mit Objekten spielen, während er einer anderen jegliche Zerstreuung versagte. Zu stattlichen Katzen herangewachsen, stellten sich bei der Jagd alle gleichermaßen geschickt an. Und Erdmännchen, die als Steppkes bei Scheinkämpfen noch brillieren, entpuppen sich später keineswegs zwangsläufig als die erfolgreicheren Raufbolde.

Ähnlich scheint es beim Menschen zu sein. Der Entwicklungspsychologe Peter Smith von der University of London testete bereits in den 1970er Jahren drei- bis vierjährige Kinder. Einigen erlaubte er, mit zwei Stäben nach eigenem Gutdünken zu verfahren, andere wies er gezielt ein, wie sich die Stöcke zusammenstecken ließen.

Doch vor die Aufgabe gestellt, mit drei Stäben an eine entfernte Murmel zu gelangen, fanden alle die Lösung gleich schnell. Smith hätte darauf gewettet, dass die angeleiteten Kinder besser abschneiden würden.

Einige Hirnforscher und Evolutionsbiologen behaupten inzwischen, den Nutzen von Spielen ein Stück besser erklären zu können. Säugetiere werden mit einem Überschuss an Nervenzellverbindungen geboren, die sich im Laufe der kindlichen Entwicklung lichten. Einige synaptische Kontakte werden gestärkt, während andere verkümmern.

Bei diesem Prozess soll dem Spielen eine wichtige Rolle zukommen. So bemerkte der Neurobiologe John Byers von der University of Idaho bereits Mitte der 1990er Jahre, dass Mäusejunge genau in jener Phase am meisten herumtollten, in der sich die Nervenzellen des Kleinhirns verdrahteten. Dass verspieltes Anpirschen oder Fluchtverhalten hier Einfluss nehmen könnten, überrascht nicht - die Hirnregion ist zuständig für Feinmotorik und Körpergefühl. Dennoch: Den Beweis einer ursächlichen Beziehung blieb Byers schuldig.

Dem Neurowissenschaftler Sergio Pellis von der kanadischen University of Lethbridge in Alberta ist es im vergangen Jahr erstmals gelungen, den Zusammenhang von Spielverhalten und Hirnentwicklung eindeutig nachzuweisen.

In einer Kontrollgruppe durften juvenile Ratten mit ihresgleichen spielen. In anderen Käfigen gesellten sich zu jedem Frischling drei erwachsene Tiere - in deren Gegenwart vergeht Rattenjungen die Spiellust. So erhielten sie zwar Zuwendung, aber ihr persönliches Amüsement hielt sich in Grenzen.

Zu Beginn ihrer Pubertät tötete das Forschungsteam die Ratten und sezierte ihre Gehirne. Jene Tiere, die nicht balgen durften, hatten einen deutlich unterentwickelten medialen präfrontalen Kortex. Das Hirnareal ist mit zuständig für die soziale Kompetenz.

Pellis vermutet deshalb, dass diese Tiere etliche Aufgaben ihres Lebens nur mühsam hätten bewältigen können. "Es ist nicht so, dass die Jungtiere ohne Spielen später eingehen würden - es ist bekannt, dass Tiere in Stresssituationen notfalls auch ohne auskommen", führt Pellis aus. "Doch sind sie später wohl weniger anpassungsfähig, als es normalerweise der Fall wäre."

Der Evolutionsbiologie Marc Bekoff von der University of Colorado, Boulder, erkennt deshalb den evolutionären Sinn der Spielfreude darin, für das "Unerwartete zu trainieren." Statt nur bestimmte Bewegungsabläufe für absehbare Situationen zu erlernen, gehe es darum, in einer sich rasch verändernden Umwelt das eigene Verhalten körperlich und geistig schnell umzustellen - und dieses Talent fördere nur das freie Spiel. Alles andere ließe sich notfalls auch auf anderem Weg erlernen.

Für diese Ansicht sprechen einige Indizien. So stellte Anthony Pellegrini von der University of Minnesota fest, dass Jungen, die sich bei Kampf- und Tobespielen geschickt zeigten, auch sozial kompetenter waren. Auch würden verspielte Kinder im Vorschulalter psychisch belastende Situationen besser meistern. Doch Bekoff gesteht ein, dass der Versuch, Sinn und Zweck des Spieltriebs auf einen Nenner zu bringen, "noch weiterer Überprüfung bedarf."

Mag Bekoffs Deutung auch Spekulation enthalten, so schlägt es doch die Brücke zum kindlichen Spiel. Seine Aufgabe, erklärt Rolf Oerter, bestehe vor allem in der Realitätsbewältigung. Kinder würden in ihren imaginierten Welten zum allmächtigen Schöpfer aufsteigen, der Spielfiguren sterben und wiederauferstehen lässt, während sie sonst nur Spielball der Erwachsenenwelt sind.

In Rollenspielen deuteten sie problematische Beziehungsprobleme ihren Wünschen gemäß um und lernten, gemeinsam mit anderen fiktive Welten zu verwirklichen. Diese spiegeln bisweilen auch die Schattenseiten menschlichen Daseins, wie die Bandenkriege an der Lexington Montessori Schule demonstrierten. "Spielen erschließt Kindern eine Fülle von Denkmöglichkeiten", erklärt der Entwicklungspsychologe. "Das wiederum erlaubt ihnen als Erwachsene, kreativ Handlungsoptionen zu erschließen."

Verlegung der Nervenbahnen

Einmal volljährig, ist es allerdings zu spät, die Nervenbahnen im Gehirn noch neu zu verlegen - und wer als Hänschen keine große Vorstellungskraft hatte, erwirbt sie als Hans wohl nimmermehr.

Dennoch vertreiben sich auch ausgewachsene Kinder mit zweckfreier, weltentrückter Beschäftigung gerne die Zeit. Sie kicken Fußbälle, bauen Buddelschiffe, spielen Canasta und schreiben traurige Gedichte oder dicke Romane. Doch es ist unklar, welchen evolutionären Sinn solche Abschweifungen ergeben. Steigern Scrabble und Pferdewetten möglicherweise den Fortpflanzungserfolg?

Verhaltensforscher können darauf verweisen, dass adulte Bonobos mit körperlichen Spielen gezielt ihre Konflikte eindämmen. Ratten liefern sich Scheinkämpfe, um die soziale Hackordnung zu etablieren.

In der Erwachsenenwelt des Homo Ludens erfüllt das scheinbar selbstgenügsame Treiben dagegen einen bunten Blumenstrauß an Aufgaben, dessen anthropologische Relevanz systematisch bislang kaum erfasst ist. Es dient körperlicher Ertüchtigung und sozialem Zusammenhalt, vertreibt Langeweile und kompensiert den Alltagsfrust. Für Künstler ist es gar der Motor ihres Schaffens.

Die Wurzeln allen Spiels liegen jedoch in den ersten Lebensjahren. Und das erlaubt es später zu erleben, was die Fachliteratur schlicht "Regression" nennt: sich kurzzeitig noch einmal zu fühlen, wie ein Kind.

© SZ vom 01.03.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: