Sicherheit:Atommeiler im Visier

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Der Absturz eines Jumbos auf ein Kernkraftwerk galt als unwahrscheinlich - nun aber wird das Schreckensszenario durchgespielt.

Jeanne Rubner und Jonas Viering

(SZ vom 21.09.2001) - Vom Flughafen Frankfurt bis zum Atomkraftwerk Biblis sind es 50 Kilometer. Ein modernes Passagierflugzeug wie der Airbus 340 kann 800 Kilometer in der Stunde fliegen. Es hat beim Start 150000 Liter leicht entzündliches Kerosin und 239 Passagiere an Bord und wiegt 275 Tonnen. Unter der Betonkuppel von Block A des Kraftwerks lagern 103 Tonnen Uran. Keine zehn Minuten nach dem Abheben könnte der Jet in den Reaktor gelenkt werden.

Ein Uralt-Reaktor wie Biblis A (Baujahr 1974) ist nicht einmal gegen den Absturz eines Phantom-Kampfflugzeuges ausreichend geschützt. (Foto: N/A)

Hundertmal unwahrscheinlicher

Wie wahrscheinlich ist ein solches Schreckensszenario? Und was passiert, wenn ein voll betankter Jumbo die Hülle sprengt? Durchgerechnet wurde das bisher nie, denn schon der Absturz einer Passagiermaschine galt bis zur US-Katastrophe "als hundertmal unwahrscheinlicher als der eines Militärjets", sagt Lothar Hahn vom Darmstädter Ökoinstitut und Vorsitzender der Reaktorsicherheitskommission (RSK). Die neueren Kraftwerke mit ihrer knapp zwei Meter dicken Stahlbeton-Hülle können deshalb den Absturz eines Starfighters überstehen, die ältesten Modelle, so das 1974 gebaute Biblis A, aber auch Stade oder Obrigheim sind allerdings nicht einmal für den Absturz eines Phantom-Kampflugzeugs ausgelegt.

Nicht leicht zu treffen

Nun wird darüber debattiert, wie leicht es ist, einen Reaktor absichtlich ins Visier zu nehmen. "Atomkraftwerke sind eher klein", sagt David Kyd, Sprecher der Internationalen Atomenergiebehörde. Flughäfen oder Ölraffinerien seien ungleich leichter zu treffende Zielscheiben. "Ich traue mir das zu, in einen Reaktor zu fliegen", widerspricht Georg Fongern. Natürlich hat der Sprecher der Pilotenvereinigung Cockpit so etwas nicht vor; aber jeder gut ausgebildete Verkehrspilot könne das, sagt Fongern, selbst Airbus-Kapitän.

Falls ein Projektil wie ein Starfighter die Hülle sprengt, können die Kühlleitungen Schaden nehmen - mit der Folge, dass der Kern sich überhitzt und im schlimmsten Fall schmilzt. Dann kommt es auf die Stabilität des Druckbehälters an. Heinz-Peter Butz, Sprecher der Kölner Gesellschaft für Reaktorsicherheit, weist darauf hin, dass 1979 beim Unfall des US-Reaktors Three Mile Island bei Harrisburg die Hälfte des Kerns geschmolzen war. Da aber der Druckbehälter intakt blieb, gelangte nur wenig Strahlung nach außen.

Jumbo schwerer als ein Kampfjet

Ein Jumbo allerdings ist ungleich schwerer als ein Kampfjet. Die enorme Energie beim Aufprall könnte eher zu einem Erdbebenszenario führen. "Dann ist die Standfestigkeit des gesamten Reaktors in Frage gestellt", sagt RSK-Vorsitzender Hahn. Die Folgen seien derzeit nicht abschätzbar, vor allem, wenn zu der Erschütterung ein Kerosinbrand komme: "Niemand hat sich damit beschäftigt". Am Donnerstag hat deshalb Umweltminister Jürgen Trittin einen Sicherheitsbericht von der RSK angefordert. Bis Mitte Oktober werde es erste Einschätzungen geben, so Hahn. "Es scheint sich aber die Meinung durchzusetzen, dass es keinen technischen Schutz gibt".

Gefahr für Wiederaufbereitungsanlagen

In Paris wundert Mycle Schneider sich derweil über die Diskussion in Deutschland. Der Leiter des atomkritischen "World Information Energy Service" hat ganz andere Sorgen. Für die Europäische Kommission hat Schneider abgeschätzt, was in der Wiederaufbereitungsanlage La Hague passieren würde, wenn in nur einer Halle ein Brand ausbricht, in der 1400 Tonnen abgebrannte Brennelemente in Becken lagern. Das Kühlwasser würde danach verdampfen, bei dem sich selbst erhaltenden Brand würde allein durch Cäsium eine Strahlendosis nach außen gelangen, die langfristig 1,5 Millionen Krebskranke verursachen könne, befürchtet Schneider. La Hague sei nur für den Absturz einer kleinen Cessna ausgelegt, der gezielte Jumbo-Anschlag würde weit schlimmere Folgen haben, so Schneider, zumal das gesamte radioaktive Inventar sich auf mehr als 10000 Tonnen belaufe. Schneider sieht auch Konsequenzen für geplante deutsche Zwischenlager. Auf jeden Fall solle man nicht zu viele Behälter "auf einem Fleck lagern".

"Alarmrotten" kommen zu spät

Kommentieren mag die Gefährdung von La Hague in Deutschland niemand. Von Zwischenlagern aber gehe vergleichsweise wenig Gefahr aus, meint Michael Schroeren: Dort könne es bei einem Anschlag zwar zur Freisetzung von Radioaktivität kommen, so der Sprecher des Bundesumweltministeriums, aber nicht zu einer unkontrollierten Kettenreaktion wie bei einem zerstörten Atomreaktor. Und Butz hält den Abfall in den Castor-Behältern für ausreichend geschützt, aber: "Die Zwischenlager werden zu analysieren sein."

Abfangjäger einsetzen

Schneiders Appell, man müsse die Atomanlagen militärisch schützen, ist wohl eher ironisch und provozierend gemeint. Gut zehn Minuten braucht ein Abfangjäger der Bundeswehr vom Alarm bis zum Start. Vorher muss er erst von der zivilen Luftraumkontrolle angefordert werden, und ein General muss über den Einsatz entscheiden. Zwar können die Jagdflugzeuge der beiden "Alarmrotten" im ostfriesischen Wittmund und im bayerischen Manching dann mit bis zu 2000 Stundenkilometer in wenigen Minuten bis zu ihrem Einsatzort rasen - aber sie kämen trotzdem wohl zu spät. "Wenn man ehrlich ist", sagt Luftwaffensprecher Helmut Frietzsche, dann müsse man erkennen, dass die Luftverteidigung kaum ein Mittel gegen einen Anschlag auf ein Atomkraftwerk wäre.

Gürtel aus Abwehrraketen

"Natürlich könnte man Gürtel mit Flugabwehrraketen rund um jedes gefährdete Gebäude aufstellen", erklärt Frietzsche. "Aber das würde ein Wahnsinnsgeld kosten, es wäre unbezahlbar" und würde außerdem den Luftverkehr über Deutschland in enge Kanäle zwingen. Fehler könnten leicht zum Abschuss einer harmlosen, verirrten Passagiermaschine führen. "Die Betreiber und wir stimmen überein, dass die Atomanlagen gegen solche Angriffe nicht ausgelegt sind", sagt Michael Schroeren. Doch erst mal blieb dem grünen Minister Trittin nicht viel anderes übrig, als die Länder und Betreiber zu bitten, ihre Sicherheitsvorkehrungen zu überprüfen. Jetzt stehen mehr Wachmänner an der Pforte.

Betreiber zugeknöpft

Die Betreiber selbst zeigen sich zugeknöpft. Eine Sprecherin des Energiekonzerns Eon, der Stade sowie Isar I und II betreibt, gab sich in der vergangenen Woche nach Medienberichten noch recht überzeugt von der Sicherheit der eigenen Anlagen. Inzwischen verschickt Eon nur noch ein vierzeiliges Fax, dass die Verletzbarkeit einräumt. Stephanie Schunck von den Rheinisch- Westfälischen Energiewerken (RWE), die unter anderem Biblis unterhalten, sagte von vornherein offener: "Gegen Terrorattentate gibt es keine hundertprozentige Sicherheit." Aber die Erkenntnis führt nicht zu einer Änderung ihrer Politik: "Wir planen keine Stilllegungen."

"Im Krisenfall abschalten" beschrieb ein Ministeriumssprecher eine mögliche Option. Doch Abschalten beseitigt nicht das radioaktive Inventar, ganz abgesehen davon, dass im Fall eines Schreckensszenarios à la New York Abschalten nichts genutzt hätte. Dauerhaft abschalten fordern derweil Kritiker wie die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW). Eduard Bernhard, energiepolitischer Sprecher des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) hatte schon vor 29 Jahren auch vor Flugzeugabstürzen gewarnt. Damals begann der heute 76-Jährige seinen Kampf gegen die Atomkraft. "Totgeschwiegen worden ist das", klagt er. Doch auch er findet sich noch nicht in dem neuen Bedrohungsszenario zurecht und redet lieber vom Risiko abstürzender Kampfflugzeuge als von Terror-Attacken mit Zivilmaschinen. Denn nicht einmal Veteranen wie Bernhard haben jemals damit gerechnet, dass Passagierflugzeuge in den Händen von Terroristen zu Waffen werden könnten, die nun vielleicht auch Atomkraftwerke bedrohen.

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