Serie: 200 Jahre Darwin (5):Acht Generationen Darwin

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Ohne seine Familie hätte Darwin keinen Platz in der Geschichte als einer der bedeutendsten Denker aller Zeiten. Die Generationen vor ihm begründeten eine Tradition freigeistigen Forschens.

Richard Friebe

Um Idole, Diven und sonstige Überflieger auf ein menschliches Maß zu bringen, hilft es manchmal, sie sich als hilflosen, nackten Säugling vorzustellen. Auch am heutigen 200. Geburtstag von Charles Darwin ist das der Weg, um ein ungewohntes Bild vom Pionier der Evolutionslehre zu gewinnen: ohne Bart, ohne dickes Buch, ohne welterschütternde Theorie, nur ein Baby, das in einem Ort namens Shrewsbury in den westlichen Midlands seine ersten Schreie tut.

Charles Darwin im Alter von sieben Jahren. (Foto: Foto: oh)

Charles Robert, genannt Bobby, ist das fünfte von sechs Kindern einer durch harte Arbeit, vorteilhafte Heirat und erfolgreiche Investitionen äußerst wohlhabenden Arztfamilie. Er wird in jenes England hineingeboren, das Jane Austen in ihren Romanen beschreibt, sagt Darwins Biografin Janet Brown von der Harvard University. Seine drei älteren Schwestern vergöttern ihn - und bedrängen ihn mit Erziehungsversuchen.

Ansporn kommt von seinem hochintelligenten, aber stinkfaulen, vier Jahre älteren Bruder Erasmus. Der Vater, Robert, ist einer der bekanntesten Ärzte Englands und Mitglied der Royal Society. Er gewährt den Söhnen viele Freiheiten, lässt Charles das Studienfach von Medizin zu Theologie wechseln und bezahlt nach einigem Widerstand auch dessen Weltreise auf der Beagle.

Wer dem Menschen Charles Darwin begegnen will, muss sich seiner Familie widmen. Ohne sie hätte Darwin heute keinen Platz in der Geschichte als einer der bedeutendsten Denker aller Zeiten. Die Generationen vor ihm begründeten sowohl eine Tradition freigeistigen Forschens und Philosophierens als auch den Wohlstand, der es Charles Darwin ermöglichte, sein Leben als "Gentleman Scientist" ohne finanzielle Sorgen zu gestalten.

Seine eigene Familie auf dem Wohnsitz in Down House in Kent diente ihm dabei nicht nur als Rückhalt, sondern auch als biologisches und psychologisches Studienobjekt. Und seine Nachkommen verwalten bis heute umsichtig und fast immer zum Vorteil ihres Ahnherren dessen Nachlass: Sie gaben Charles Darwins Briefe heraus, editierten seine Publikationen, verfassten Biographien und beantworteten Fragen der Medien.

Eine Art Popstar

Anfangen muss die Familiengeschichte bei jemandem, der Charles nie gekannt hat, weil er sieben Jahre vor dessen Geburt starb. Der Großvater Erasmus Darwin ist bis heute das zweitbekannteste Mitglied des Darwinschen Clans. Als Arzt, Botaniker, Erfinder und Poet war er im späten 18. Jahrhundert eine Art Popstar in England, und führte ein entsprechendes Leben.

Er war zweimal verheiratet und hatte mindestens 14 eheliche und uneheliche Kinder. Zu seinen größten Erfolgen zählte das Gedicht "The Loves of Plants" aus seinem Buch "The Botanic Garden". Es popularisierte die auf den Sexualmerkmalen der Pflanzen beruhende botanische Systematik von Carl von Linné und galt Anfang des 19.Jahrhunderts als derart gesellschaftsgefährdend, dass es über Jahrzehnte nicht mehr verlegt wurde.

In seinem Werk "The Temple of Nature" entwickelt Erasmus Darwin sogar eine biologische Abstammungslehre, die Ähnlichkeiten mit dem aufweist, was der Enkel sich eines Tages würde einfallen lassen.

Einer von Erasmus' zahlreichen Söhnen, Francis Sachewerel Darwin - ein Halbonkel von Charles - machte sich als Forschungsreisender und Draufgänger einen Namen. Von ihm stammen etwa die eindrücklichen Beschreibungen der Pest in Smyrna (heute Izmir). Als einziger von fünf jungen Männern, die jene Reise begonnen hatten, kehrte er lebend nach England zurück. Später wurde er Leibarzt des Königs.

Erasmus' Sohn Robert hingegen heiratete Susannah, eine Tochter des schwerreichen Porzellanfabrikanten Josiah Wedgwood, eines engen Freundes des alten Erasmus. Es war die erste Heirat zwischen den beiden Familien, und der Beginn des Darwin-Wedgwood-Clans.

Ein paar weitere Heiraten zwischen den beiden Familien sollten folgen, unter anderem die von Charles Darwin mit seiner Cousine Emma Wedgwood 1839.

"Wie der Stammbaum eines Rennpferdes"

Deren Leben lese sich "wie der Stammbaum eines Rennpferdes", klagte einmal die Londoner Zeitung Guardian anhand einer Emma-Biographie von Edna Healey. Die beiden versippten Familien haben über die Generationen zahlreiche Mitglieder der geistigen, kulturellen und finanziellen Elite der britischen Königreiches hervorgebracht.

Die weniger glorreichen Details aus der Geschichte der Dynastie werden jedoch gerne weggelassen. Namen, Daten, geschriebene Bücher, komponierte Symphonien und gegründete Firmen sind eben historische Tatsachen, während sich menschliche Schwächen, unethisches Geschäftsgebaren oder Drogensucht anhand von Dokumenten kaum nachweisen lassen.

Großvater Erasmus jedoch scheint alles andere als ein netter Dichterpapa gewesen zu sein, sondern ein tyrannisches und selbstsüchtiges Regime geführt zu haben. Der Psychoanalytiker John Bowlby vermutet in seiner Darwin-Biographie sogar, Erasmus habe seinen gleichnamigen Sohn mit ständiger Kritik, Ungeduld und emotionaler Unzugänglichkeit in den Selbstmord getrieben.

Erasmus' erste Frau und Charles' Großmutter ist mit gerade dreißig Jahren wahrscheinlich an einer Kombination von Leberversagen und einer von Erasmus verabreichten Überdosis Opium gestorben. Auf der Wedgwoodschen Seite gab es ähnliche tragische Fälle. Charles' Onkel Thomas, einer der Pioniere der Fotografie und Mäzen des Dichterphilosophen Samuel Taylor Coleridge, soll ebenfalls einer Überdosis zum Opfer gefallen sein.

Erasmus Darwin, Charles Darwins Großvater. (Foto: Foto: oh)

In der Familiengeschichte Darwins ist somit ein Grundthema der Biologie wiederzufinden, das Darwin selbst und seine wissenschaftlichen Nachfolger umtrieb: Wer ist eigentlich mit wem verwandt? Stammbäume, wenn auch jene von Rädertierchen und Fischen aus dem Victoriasee über Finken bis zum Menschen sind zentrale Ergebnisse der Abstammungslehre Darwins.

Reichlich Gene in der nächsten Generation

Fragen von Zucht, Inzucht und Partnerwahl beschäftigten Darwin nicht nur wissenschaftlich, sondern wegen seiner Heirat mit einer Cousine ersten Grades auch privat und emotional. Untreue und Egoismus halfen seinem Großvater Erasmus, reichlich Gene an die nächste Generation weiterzugeben, während seine Onkel Thomas und Josiah Wedgwood II sich mit der Unterstützung Coleridges in Altruismus übten, und damit ein Beispiel für eines der bis in die Gegenwart großen Rätsel der Evolutionsbiologie lieferten.

Auch die heiß umkämpfte Frage nach dem Einfluss von Anlage und Umwelt auf die Entwicklung eines Menschen lässt sich am Darwin-Clan diskutieren. Charles Darwins Halbcousin Francis Galton, der als Begründer der modernen Statistik zu gerechtem und als Begründer der Eugenik zu zweifelhaftem Ruhm gelangte, thematisierte diesen Dualismus als erster explizit.

Auf Darwin selbst angewandt lautet die Frage: Machten die Gene Darwin zu dem Genie mit der "besten Idee, die irgendwer je hatte", wie der Philosoph Daniel Dennett von der Tufts University sagt? Oder hatte Darwin, wie Janet Brown in ihrer Biografie argumentiert, einfach nur das Glück und Geschick, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein - also unter optimalen Umweltbedingungen zu leben?

Charles Darwin versuchte seinen eigenen Kindern jedenfalls diese optimalen Bedingungen zu bieten. Sie waren nicht nur des Vaters ganzer Stolz, sondern auch seine liebsten Beobachtungsobjekte.

Die Entwicklung des ersten Sohnes William Erasmus etwa, der später ein erfolgreicher Bankier wurde, hielt der Vater minutiös in Aufzeichnungen fest. Sie bestärkte ihn in der Ansicht, dass Menschen eng mit Tieren verwandt sind. Sein Buch "Biographical Sketch of an Infant" ist die erste wissenschaftliche Studie der Entwicklung eines Kindes und damit der Anfang der Kinderpsychologie.

In seiner Idee von der natürlichen Selektion und des "niedrigen und schrecklich grausamen Wirkens der Natur" bestärkt den Wissenschaftler Charles Darwin tragischerweise auch der frühe Tod seiner Kinder Annie und Charles Waring. Zudem verliert der Mensch Charles Darwin darüber seinen Glauben. Dass solches Leid unschuldiger Kinder Teil eines göttlichen Planes sein könne, erscheint ihm unmöglich. Es ist Darwins Ur-Urenkel Randal Keynes, der dies und die damit einhergehenden Konflikte mit der tief religiösen Ehefrau Emma im Buch "Annies Schatulle" beschreibt.

Von Charles Darwins Kindern folgen ihm drei in die angesehene Wissenschaftsgesellschaft Royal Society, als Astronom, Botaniker und Ingenieur. Francis, der Botaniker, beginnt auch eine neue Familientradition als geistiger Erbverwalter und gibt Briefe und die Autobiografie seines Vaters heraus. Nora Darwin Barlow, die Tochter von Horrace, dem Ingenieur, setzt die Tradition fort - unter anderem damit, dass sie, anders als Francis, Darwins Autobiografie endlich unzensiert veröffentlicht.

Mit dem Leben und Wirken der Nachfahren Darwins ließen sich Bücher füllen. Der große Komponist Ralph Vaughan Williams, dessen Werk die BBC vergangenes Jahr eines ihrer "Proms"-Konzerte widmete, war ein Nachfahre von Charles' Schwester Caroline. Der erste Sportjournalist, der ausschließlich über Golf berichtete und es damit in die "Hall of Fame" schaffte, Bernard Darwin, war ein Enkel Darwins.

Die Schriftsteller Gwen Raverat und John Cornford stammen ebenfalls direkt von Emma und Charles ab. Darwins Ur-Urenkel, der Journalist und Drehbuchautor Matthew Chapman (bekannt für das Script von "Color of Night" mit Bruce Willis) gründete im vergangenen Jahr die Initiative "Science Debate 2008". Er befragte im US-Wahlkampf Barack Obama und John McCain nach ihren Positionen zur Wissenschaftspolitik. Dazu kommen zahlreiche Ärzte, Neurowissenschaftler, Biologen, Unternehmer, Autorinnen.

In der Generation der Ur-Ur-Urenkel ist der 17-jährige Skandar Keynes, Sohn von Randal, zurzeit der bekannteste Familienvertreter. Er spielt in der Verfilmung der "Chroniken von Narnia" die Rolle des Edmund, eine der Hauptfiguren. Damit sind Darwins Gene, wenn auch stark verdünnt, nun in der Popkultur des 21.Jahrhunderts angekommen. Das Baby von Shrewsbury hat in 200 Jahren also reichlich Spuren hinterlassen - das wichtigste natürlich unverdünnt: eine Theorie, die die Welt verändert hat.

© SZ vom 12.02.2009/mcs - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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