Schüler im Stress:Kinder leiden unter dem Druck der Eltern

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Stadt, Land, Fleiß I: Interview des SZ-Magazins mit der Ottobrunner Grundschul-Lehrerin Monika Keil.

SZ-Magazin: Frau Keil, Ottobrunn ist ein wohlhabender Vorort von München. An der Grundschule, an der Sie unterrichten, wollen wie jedes Jahr mindestens 20 von 25 Kindern nach der vierten Klasse ins Gymnasium übertreten. Sind Ottobrunner Kinder besonders talentiert?

Monika Keil: Sie sind bestimmt nicht talentierter als andere Kinder. Ein Grund für die vielen Übertritte ins Gymnasium ist sicher die soziale Struktur der Bevölkerung hier. Wegen der zahlreichen Hightech-Arbeitsplätze im Umkreis ist das Bildungsniveau der Eltern hoch. Gleiche Ansprüche stellen sie an ihre Kinder. Das ist auch eine Prestigefrage bei den Eltern, die auf die Kinder übergeht. Viele Eltern würden ihre Kinder am liebsten gleich am Gymnasium einschreiben, wenn sie sie an der Grundschule anmelden.

SZ-Magazin: Raten Sie auch Eltern vom Gymnasium ab?

Keil: Schon. Es gibt Eltern, mit denen man reden kann, die dem Urteil der Lehrer, die das Kind seit zwei Jahren kennen, vertrauen. Man sucht dann gemeinsam Wege für eine Schullaufbahn, die für das Kind die beste ist. Es gibt aber auch Eltern, die trotzdem sagen: Mein Kind muss aufs Gymnasium gehen. Wenn dann die Noten dafür nicht ausreichen und die Eltern nur dieses eine Ziel vor Augen haben, gibt es Probleme und manchmal suchen sie dann einen Schuldigen.

SZ-Magazin: Und der ist meistens der Lehrer.

Keil: Ja! Diese Eltern kommen zu mir, weil sie zum Beispiel mit der Bewertung in Proben nicht einverstanden sind. Es gibt auch deshalb immer wieder Beschwerden bei der Schulleitung oder auch beim Schulamt. Oft haben die Eltern das Gefühl, der Lehrer sei nicht gerecht in der Notengebung oder die Leistungsfähigkeit ihres Kindes werde nicht erkannt. Tatsache ist, dass diese Eltern ihre Kinder oft unter Druck setzen und die Kinder gerade dann die erhofften Leistungen nicht erbringen können.

SZ-Magazin: Können Sie unterscheiden, ob ein Kind unter dem Druck der Eltern steht oder von sich aus sehr ehrgeizig ist?

Keil: Ein Kind, das unter Leistungsdruck steht, fällt dem Lehrer sofort auf. Ich merke es am Verhalten während der Probearbeiten: Das Kind ist sehr nervös, kann sich schlecht konzentrieren, fängt leicht an zu weinen, ist oft verzweifelt, fragt immer wieder nach und kommt allein nicht zurecht.

Auch die Reaktion auf einen Misserfolg kann zeigen, ob Druck vom Elternhaus kommt: Bei einer schlechten Note ist das Kind völlig aufgelöst, weint und hat Angst, die Arbeit von den Eltern unterschreiben zu lassen. Es ist sogar schon vorgekommen, dass Kinder in der dritten Klasse die Unterschrift ihrer Eltern fälschten!

SZ-Magazin: Wie reagieren Sie, wenn der Druck offensichtlich so enorm ist?

Keil: Ich rede dann mit dem Kind und natürlich auch mit den Eltern. Leider geben es die meisten Eltern nicht zu. Mag sein, dass es vielen auch nicht bewusst ist, wie sehr sie ihre Kinder allein schon durch eine starke Erwartungshaltung unter Druck setzen können. Man hört auch immer wieder heraus, dass die Eltern wirklich enttäuscht sind: Sie haben immer gedacht, dass ihr Kind es spielend schafft, und dann bringt es nur Dreien nach Hause.

SZ-Magazin: Was ja eigentlich "befriedigend" bedeutet.

Keil: Natürlich, aber für den Übertritt reicht es halt nicht. Also sind die Eltern nicht zufrieden. Und das Kind ist demzufolge ständig frustriert. Wenn die Schule nur ein Kampf ist, bringt das oft Unglück über die ganze Familie. Die Kinder in der vierten Klasse haben schon oft nervöse Ticks: Sie zwinkern mit den Augen, fangen das Nägelbeißen an. Irgendwann wollen die Kinder gar nicht mehr zur Schule, geben auf. Und die haben dann oft überhaupt keinen Abschluss.

SZ-Magazin: Wie viel Engagement der Eltern begrüßen Sie?

Keil: Ich wünsche mir ein Engagement, das sich nicht nur um Leistung dreht. Sie sollten nicht nur die Proben unterschreiben, sondern auch Hefte anschauen. Dann sehen sie die vielen Einträge und Zeichnungen der Kinder, die oft mit Hingabe und Liebe erstellt worden sind. Diese Arbeiten werden zu wenig oder überhaupt nicht beachtet.

Ich wünsche mir auch, dass die Eltern ihre Kinder bei Misserfolgen mehr unterstützen und eher ermuntern, als ihnen Vorwürfe zu machen. Aber sie können dann ihre Enttäuschung nicht verbergen - die Kinder leiden darunter und haben manchmal das Gefühl, weniger geliebt zu werden. Dabei sollten Eltern ihre Kinder so annehmen, wie sie sind. Das ist eine Grundvoraussetzung für die Erziehungsaufgabe, die jedoch leider von vielen Eltern nicht mehr ernst genug genommen wird.

SZ-Magazin: Verstehen Sie denn die Position der Eltern nicht, denen gute Noten über alles gehen?

Keil: Doch, ich verstehe die Eltern, natürlich. Nur geben sie vor, das Beste für ihr Kind zu wollen, denn die Auswahl der weiterführenden Schule erfolgt oftmals nicht auf Grund von Begabung, Neigungen und Fähigkeiten des Kindes, sondern im Vordergrund stehen häufig versteckte eigene Wünsche.

Mögen die Kinder gute Mitschüler lieber als schlechte?

Keil: Bei den Jungs ist es oft so, dass die sportliche Leistung wichtiger ist als die Leistungen in Mathe oder Deutsch. Ein guter Fußballspieler ist in der Klasse akzeptiert. Bei den Mädchen spielen gute Zensuren in den Lernfächern eine große Rolle.

Als Lehrerin muss ich dafür sorgen, dass die Kinder nicht nur nach den Noten urteilen, sondern sehen, wie wichtig Charaktereigenschaften wie Kameradschaft, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit sind. Ich muss darauf achten, dass der gesellschaftliche Druck unter den Kindern nicht so hoch wird, dass ein Kind mit Dreien oder Vieren weniger wert ist als ein Kind mit Zweien oder Einsen.

SZ-Magazin: Hatten Sie jemals ein Kind mit guten Noten, das auf die Hauptschule ging?

Keil: Wenn ein Kind gute Noten für den Übertritt in das Gymnasium oder für die sechsstufige Realschule hat, wählt es diesen Weg, ganz klar. Reicht der Notendurchschnitt nicht, geht es auf die Hauptschule. Diese Kinder haben dort oft wieder echte Erfolgserlebnisse, weil die Leistungsstruktur innerhalb der neuen, also der fünften Klasse neu definiert wird. Auch Kinder, die noch Zeit für ihre individuelle Entwicklung benötigen, gehen auf die Hauptschule. Und Kinder, die sprachliche Probleme haben, weil Deutsch nicht ihre Muttersprache ist.

SZ-Magazin: Was gibt es für Möglichkeiten für Kinder, wenn sie den Durchschnitt für das Gymnasium knapp nicht erreicht haben?

Keil: Diese Kinder müssen den Probeunterricht an dem gewünschten Gymnasium besuchen: Es sind mehrere Vormittage, an denen geprüft wird.

SZ-Magazin: Und wenn sie das alles nicht schaffen, gibt es noch private Gymnasien als Alternative.

Keil: Ja, die gibt es. An vielen privaten Gymnasien wird eine individuelle Förderung und Betreuung angeboten. Diese Schulen sind teuer, trotzdem aber gefragt, klar. Man muss sich also früh um einen Platz bemühen.

SZ-Magazin: Sie tragen eine große Verantwortung für die Zukunft eines Kindes. Haben Sie das Gefühl, dass Sie diese schwer wiegende Entscheidung lieber später treffen würden? Nach der sechsten Klasse zum Beispiel?

Keil: Diese schwer wiegende Entscheidung zu treffen ist für die Eltern viel schwieriger als für mich. Für die Eltern steht halt der Wunsch an erster Stelle, dass ihr Kind ein Gymnasium besucht.

Ich meine, dass ich in den meisten Fällen mit meiner Berufserfahrung sehr gut beurteilen kann, welche Schullaufbahn für das Kind am geeignetsten ist.

Die Lehrer der vierten Klassen verfassen für den Übertritt in das Gymnasium und die Realschule ein Übertrittszeugnis, in dem die Eignung des Schülers in einem umfangreichen Wortgutachten dargelegt wird.

Eine Entscheidung für die Kinder zu einem späteren Zeitpunkt wäre manchmal schon wünschenswert, vor allem für Spätentwickler. Aber in Bayern muss nach der vierten Klasse eine Entscheidung gefällt werden, das ist so und wir haben keine andere Wahl.

Das Interview führte Gabriela Herpel für das SZ-Magazin (12.04.2002)

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