Porträt:Zeit für Irrfahrten

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Der Mathematiker Wendelin Werner beschäftigt sich vor allem mit der Wahrscheinlichkeits­theorie. Als Kind war er schon mal ganz kurz berühmt: Er spielte in einem Film an der Seite von Romy Schneider.

Von Andrea Hoferichter

it Ruhm und Rampenlicht kann Wendelin Werner nur wenig anfangen, obwohl er mit der Fields-Medaille eine Art Nobelpreis sein eigen nennt. "Die Leute denken, dass man automatisch als Person wahnsinnig interessant sein muss, nur weil man einen Preis gewonnen hat. Aber bei Wissenschaft geht es vor allem um die Sache", stellt er gleich zu Beginn des Gesprächs klar. "Die Sache" ist in seinem Fall Wahrscheinlichkeitstheorie.

Grob gesagt beschäftigt sich der französische Mathematiker, der seit 2013 an der Eidgenössisch-Technischen Hochschule (ETH) Zürich forscht und lehrt, mit zufällig entstandenen Formen, die an das Krickelkrakel eines Kinderbilds erinnern, zum Beispiel mit Rostlöchern im Autoblech oder dem Wegemuster von Staubpartikeln in der Luft.

Eines seiner Forschungsthemen heißt "selbstvermeidende Irrfahrten". Klingt wie ein interessantes Lebensmotto, ist aber eine Art Zeichenstrategie. Dabei wird auf Rechteck- oder Wabengittern eine Linie nach dem Zufallsprinzip so konstruiert, dass sie sich dabei nicht selber kreuzt. Solche Zufallslinien können zum Beispiel helfen, Strukturen unter bestimmten Randbedingungen ineinander zu überführen. "Das hört natürlich etwas artifiziell an", räumt Werner ein. Die Motivation dafür komme aber aus der Physik. Es geht um Schwerkraft, Energie und ganz allgemein um Wechselwirkungen zwischen Teilchen. "Man kann sich zum Beispiel fragen, woher die Erde 'weiß', wie weit sie von Sonne und Mond entfernt ist und wie sie von ihnen in der einst von Newton beschriebenen Weise angezogen wird. Und dann kann man überlegen, was für eine Art Kommunikation da läuft.". Ähnliche Gedanken steckten auch hinter der Forschung zu den Irrfahrten. Die Fragen zu wichtigen mathematischen Problemen seien oft einfacher und fundamentaler, als viele Menschen glaubten.

Für seine Arbeit braucht Werner vor allem Zeit. "Gute Ideen kommen ja nicht auf Befehl", sagt er. Allerdings kollidiere diese Arbeitsmethode durchaus mit den Mechanismen der Wissenschaftsforderung. "Wenn ich Gelder beantrage, muss ich in der Regel angeben, was ich die nächsten drei, vier Jahren vorhabe. Aber Mathematiker denken in viel längeren Zeiträumen", berichtet er. "Wenn ich in den nächsten 15 Jahren noch zwei wirklich innovative Spitzenideen hätte, dann wären sicher alle zufrieden. Aber eine Garantie gibt es dafür eben nicht." Neben Zeit hilft auch Bewegung bei der kreativen Arbeit. Werner sitzt nicht gerne am Schreibtisch, läuft oft herum oder geht wandern. "Das geht hier in Zürich ja supergut, Berge und Wälder sind gleich um die Ecke", erzählt er. Im Zug könne er ebenfalls gut arbeiten, wenn die Landschaft an ihm vorbeigleite.

Werners Eltern stammen aus Deutschland, aber er ist bei Paris aufgewachsen und hat dort auch Mathematik studiert. Es hätte allerdings auch anders laufen können. Als Teenager wurde er durch Zufall aus einem Pariser Jugendorchester ausgewählt, um in Romy Schneiders letztem Film "Die Spaziergängerin von Sans-Souci" mitzuwirken. "Ich hatte nicht mal aufgezeigt ", sagt er. Ähnlich alt wie Schneiders kurz zuvor verstorbener Sohn David übernahm er die Rolle ihres Filmkindes. "Die Situation war schon angespannt, es war ja für Romy Schneider eine besonders schwierige Zeit", erzählt er. Die Dreharbeiten seien aber eine "eher nicht so bedeutende Episode" gewesen, wenngleich lehrreich. "Ich habe miterlebt, wie Medien gute Menschen fertig machen können", sagt er zum Umgang mit der Hauptdarstellerin. Auch über ihn hätte viel Blödsinn in den Zeitschriften gestanden. "Ich habe damals gemerkt, dass Ruhm auf keinen Fall das Ziel sein sollte, und dass ich etwas intellektuell Stimulierendes studieren möchte, wofür ich echt Interesse habe."

Diese Rechnung ging allerdings nur bedingt auf. Auch ohne Schauspielerei hat es Wendelin Werner zu einer gewissen Prominenz gebracht und neben der Fields-Medaille noch zahlreiche andere Auszeichnungen bekommen. "Die Bedeutung von Wissenschaftspreisen sollte aber nicht überschätzt werden. Es gibt viele hervorragende Mathematiker, die leider nicht ausgezeichnet werden", sagt er bescheiden. Außerdem habe ihm gar nicht gefallen, dass sein wichtigster Preis gleich national vereinnahmt wurde. "Als ich die Fields-Medaille bekam, verkündeten die französische Regierung und Medien, das sei ein erneuter Beweis, wie großartig Frankreich und wie schlau die Franzosen seien", berichtet er. "Dabei ist es in unserer täglichen Arbeit gerade bereichernd, dass Mathematikerinnen und Mathematiker aus der ganzen Welt zusammen arbeiten. Wir Wissenschaftler sind zuallererst Weltbürger"

Am 23. September wird Wendelin Werner 50 Jahre alt, am selben Tag übrigens, an dem Romy Schneider ihren 80. Geburtstag gefeiert hätte. Auf diesen medienwirksamen Zufall macht er dann doch noch selber aufmerksam. Schon ein halbes Jahrhundert alt zu sein, das macht ihm keine Sorgen. "Ich bin entspannt, auch wenn einem in der Wissenschaft besonders stark bewusst wird, wie schnell die Zeit vergeht", erzählt er. So habe er an der ETH schon wissenschaftliche Urenkel, denn einige Ex-Doktoranden seiner ehemaligen Doktoranden betreuten heute schon selber Doktoranden. "Umso wichtiger ist es, Erfahrung, Ideen und Anschauungen weiterzugeben", betont Wendelin Werner. "Damit die jungen Mathematikerinnen und Mathematiker mit ihrer Kreativität in Zukunft Probleme knacken können, bei denen wir stecken geblieben sind."

© SZ vom 27.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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